© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002


Kein Denkmal ohne Demontage
Geschichtspolitik: Österreichs erster Nachkriegskanzler Leopold Figl wird seiner bedeutendsten Rede beraubt
Frank Philip

Die Geschichtspolitik ist ein Feld, das die Linke mit besonderem Fleiß beackert. Denn mit der Deutungshoheit über die Vergangenheit, das hat die Linke instinktiv erkannt, lassen sich Licht und Schatten derselben in die gewünschte Richtung lenken. Jener dem Licht zustrebende "aufgeklärte" Teil der Gesellschaft muß dann springen. Nach dem Marsch durch die Institutionen - auch das Geschichtsbewußtsein zählt dazu - ist es der bundesrepublikanischen Linken im Verein mit bürgerlichen Helfershelfern gelungen, einen weitgehenden Konsens über die deutsche Geschichte zu erzwingen. Danach gab es neben einer Unzahl Finsterlinge wenige, rare Lichtgestalten, meist linksliberale Emanzipatoren. Das antibürgerliche streamlining der Geschichte ist denkbar simpel, doch umso wirksamer, je geschichtsloser sich ein Volk nach mehrstufiger Umerziehung präsentiert.

Etwas härter tat sich bei dieser Übung der Geschichtseintrübung die Linke in Österreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg ersparten dort bürgerliche Regierungen dem Volk die Qual masochistischer "Vergangenheitsbewältigung" mit der Erklärung, man sei schließlich Hitlers erstes Opfer gewesen. Leopold Figl (1902-1965), der erste Bundeskanzler der Zweiten Republik, prägte sich dem kollektiven Gedächtnis äußerst positiv ein. In der bitteren Stunde des totalen Zusammenbruchs suchte er die Not seiner Landsleute zu lindern: "Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben. Ich kann euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts", tönte Figls Stimme zu Weihnachten 1945 aus Tausenden von Radioapparaten im zerbombten Wien und auf dem ringsum von Russen besetzten Land. "Ich kann euch nur bitten, glaubt an dieses Österreich!" Zehn Jahre später war es derselbe Figl, nunmehr als Außenminister, der vom Balkon des Schloß Belvedere den frisch unterzeichneten "Staatsvertrag" der begeisterten Menge zeigte und verkündete: "Österreich ist frei!"

Zum bevorstehenden 100. Geburtstag Figls bereitet die Volkspartei (ÖVP) dem Staatsmann eine ehrende Ausstellung im Voglsang-Institut; ein Symposium der Parteiakademie und ein Festakt im Parlament werden im Herbst folgen. Zeitgleich sucht die linksgerichtete Presse nach dem Haar in der Suppe, denn eine Glorifizierung oder gar Mystifizierung des strammen Konservativen gilt es zu verhindern. Zwar gehörte der gleich nach dem "Anschluß" 1938 über fünfeinhalb Jahre im KZ Dachau eingekerkerte Figl eindeutig zu den Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes, doch war er auch - verdächtig! - kerniger Antikommunist, der sich den "Niederösterreichischen Sturmscharen" zur Abwehr eines sozialistischen Putsches angeschlossen hatte. Zudem sei Figl im Ständestaat ja "Reichsbauernbundführer" gewesen, geben linke Historiker maulend zu bedenken. Auch nach dem Krieg, so notierten damals zwei US-Geheimdienstler in ihre Blöcke, habe er Engelbert Dollfuß als "echten Demokraten" bewundert.

Bislang konnten diese erschreckenden Details dem von zahlreichen Legenden umrankten Bild des großen Figl nichts anhaben, mußte die Linke erkennen. Mit zaghaftem Kratzen stößt man das Denkmal nicht vom Sockel, deshalb holte nun das in Wien erscheinende Magazin Profil zu einem ersten wuchtigen Schlag gegen Figl aus: Alle Geschichten rund um Figl seien erstunken und erlogen, behauptete dort Autor Herbert Lackner. Am Balkon des Belvedere habe Figl dem eigentlichen Architekten des Staatsvertrages, Julius Raab, die Schau gestohlen und sich unverdient in den Vordergrund gedrängt. "Österreich ist frei", habe er nur drinnen im Saal gesagt, wobei die Filmaufnahme vom Balkon auf ominöse Weise getürkt sein müsse. Bei den Verhandlungen mit den Sowjets zuvor habe Figl diese keineswegs, wie so oft erzählt wird, "charmant unter den Tisch gesoffen". Im Gegenteil sei Figl ständig betrunken gewesen, doch sei dies selbst dem sozialistischen Kanzler Bruno Kreisky so peinlich gewesen, daß er sie vertuschen wollte.

Am erstaunlichsten ist aber, was das SPÖ-nahe Magazin zur bewegenden Weihnachtsansprache von 1945 herausgefunden haben will. Generationen von Schulkindern haben die Worte in ihren Büchern vorgefunden, und immer wieder wurde Figls brüchige Stimme in Dokumentarfilme eingespielt. Doch nicht 1945, sondern erst viel später, im Jahre 1965, weiß Profil nun zu enthüllen, habe der greise Figl, verführt von seinem umtriebigen Assistenten, dem 25jährigen Hans Magenschab, die Worte "Glaubt an dieses Österreich" ins Mikrophon gekrächzt. Die nach Ansicht vieler Historiker bedeutendste Rede der Zweiten Republik sei 1945 also niemals gehalten worden.

Die Schilderung von Profil liest sich abenteuerlich: Mangels technischer Ausstattung habe nach dem Krieg niemand Radiosendungen aufgenommen. Um bei einer Feier zum zwanzigsten Jahrestag des Kriegsendes etwas vorweisen zu können, habe Magenschabs Freund und Cartellvereins-Bruder Ernst Wolfram Marboe den todkranken Figl in ein Aufnahmestudio geschleppt, wo dieser einen von Magenschab zurechtgezimmerten Text vom Blatt ablas. Damit bestreitet Profil die Urheberschaft Figls und schiebt das Verdienst an der Rede einem wenig bekannten Beamten aus der zweiten Reihe zu. "Dann hat er gesagt, das ist meine Rede", zitiert Profil Magenschab, der pikanterweise heute als Pressesprecher des nach links gewendeten Bundespräsidenten Thomas Klestil fungiert.

Der ÖVP war der geschichtspolitische Angriff auf einen ihrer bedeutendsten Bundeskanzler bislang keine Silbe wert. Heftiger Widerspruch kam dagegen von dem Historiker und konservativen Publizisten Albert Pethö: "Selbstverständlich hat Bundeskanzler Figl diese Rede gehalten, im Radio und zu Weihnachten 1945", meint er. "Es hätte 1965 doch Tausenden von Österreichern auffallen müssen, daß die Rede, die sie 1965 gehört haben, 1945 nicht von ihnen gehört worden ist." Pethö hält die Geschichte in Profil für einen "aktuellen Versuch der Geschichtsverdrehung", gar für "ein Experiment virtueller Geschichtsschreibung". Obwohl die meisten Weggefährten Figls schon gestorben seien, gebe es "noch genügend Zeitzeugen, die bestätigen werden, daß diese für Österreichs Identität so wesentliche Rede 1945 auch tatsächlich gehalten worden ist." An der Autorenschaft Figls bestehe für ihn "nicht der geringste Zweifel".


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