© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002

 
Die Krise kommt erst noch
von Manfred Ritter

Bei Unfällen erleiden Menschen gelegentlich innere Verletzungen, die zum langsamen Verbluten führen, ohne daß es mit Schmerzen verbunden wäre. Die Betroffenen glauben mit "ein paar blauen Flecken" davongekommen zu sein und verzichten auf eine medizinische Untersuchung, die zur lebensrettenden Operation führen würde. Wenn sie dann merken, daß etwas nicht stimmt, ist es oft schon zu spät.

Wer die derzeitige Wirtschaftspolitik der Industriestaaten analysiert, dem drängen sich die Parallelen zu diesen innerlich verblutenden Unfallopfern geradezu auf. Im Rahmen der Globalisierung sind inzwischen Millionen von Arbeitsplätzen aus den Hochlohnstaaten in die Niedriglohnländer abgewandert, ohne daß Ersatz geschaffen wurde. Dies zeigt sich in dauerhaft hohen bzw. steigenden Arbeitslosenzahlen und einer immer deutlicher sichtbar werdenden Rezession (Konkurse auch von Großbetrieben, schlechte Auftragslage von Industrie und Handwerk, sinkende Umsätze beim Handel usw.). Diese Entwicklung scheint sich in jüngster Zeit in gefährlicher Weise zu beschleunigen. Wenn man den Wirtschaftsteil einer Zeitung aufschlägt, sind fast nur noch negative Nachrichten zu lesen. Personalabbau in großen Firmen ist an der Tagesordnung. Bei kleineren Firmen, deren Arbeitsplatzverluste in der Summe sogar noch höher sind, wird er gar nicht mehr erwähnt. Bei den Aktienkursen finden Sprünge nach oben und noch mehr nach unten statt, die sich zum Teil durch hysterische Reaktionen von Spekulanten erklären lassen, aber auch demonstrieren, wie unsicher die Lage weltweit inzwischen geworden ist. Parallelen zum "Schwarzen Freitag" im Jahre 1929, der die damalige Weltwirtschaftskrise einleitete, sind kaum zu übersehen. Panikreaktionen mit radikalen Kursstürzen sind nicht mehr auszuschließen. Man hat zwar den Eindruck, daß Banken, Aktienfonds und andere Interessensgruppen immer wieder als Feuerwehr intervenieren, um die Kurse nicht zu weit abstürzen zu lassen. Wie lange sie die Entwicklung bei den sich weiter verschlechternden Wirtschaftsdaten im Griff behalten können, ist allerdings zweifelhaft. Anzeichen für eine Verbesserung der Lage sind nicht zu erkennen. Die Globalisierung fordert immer deutlicher ihre Opfer. Im Falle einer Krise wird sie auch ihre Kinder, die "Global Players", selber fressen.

Trotz der immer dunkleren Wolken am Horizont werden Politiker und Wirtschaftsgurus nicht müde, das "Anspringen der Konjunktur" jeweils im nächsten halben Jahr anzukündigen. Daß sich diese Prognose jedesmal als falsch erweist, scheint in Deutschland offenbar niemanden zu stören. Vor allem unsere Medien nicht, die allmählich Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser "Experten" anmelden müßten. Wenn man sie fragt, warum sie so hartnäckig an der Verbreitung der falschen Prognosen mitwirken, entgegnen sie, daß man die Wirtschaft nicht "krankreden" dürfe. Die Ergebnisse zeigen allerdings, daß sich die Wirtschaft auch nicht gesund reden oder gesund schreiben läßt.

Das alles wäre unerheblich, wenn man an der Wirtschaftsentwicklung ohnehin nichts ändern könnte und sie wie ein Naturereignis hinnehmen müßte. Wenn allerdings Bürger und Politiker den Ernst der Lage wegen dieser falschen Prognosen nicht erkennen, werden sie auch nicht der Ursache der wirtschaftlichen Fehlentwicklung auf den Grund gehen und über Abhilfemaßnahmen nachdenken. Sie wiegen sich auch deshalb in falscher Sicherheit, weil das wirtschaftliche Ausbluten durch die Globalisierung langsam verläuft und man es deshalb zunächst übersehen kann. Dabei wird allerdings die Gelegenheit verpaßt, durch einen rechtzeitigen operativen Eingriff der "Globalisierungsfalle" zu entkommen.

Wenn eines Tages die große Globalisierungskrise kommt, werden wieder alle fragen, warum man nichts dagegen getan hat. Dafür gibt es jedoch eine triftige Erklärung. Es geht um die Gewinnmaximierung der großen internationalen Konzerne, die in dieser Höhe nur im Rahmen der Globalisierung, also eines von Handelsschranken weitgehend befreiten Welthandels, möglich ist. Warum schweigen aber die großen Medien, die sonst jede Gelegenheit zum Entlarven und Anprangern wahrnehmen? Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß sie auf jede Diskussion über Alternativen zur Globalisierung mit einer Hartnäckigkeit verzichten. Diese Politik der Massenmedien ist gewollt. Wer die Hintermänner sind, ist unschwer zu erraten. Es sind die großen Konzerne als Globalisierungsgewinner, von deren Werbung das finanzielle Überleben der Massenmedien abhängt. Große Zeitungen finanzieren sich bekanntlich zu etwa 70 Prozent (und die privaten Fernsehsender nahezu vollständig) aus Werbeeinnahmen. Wenn man auch noch bedenkt, welchen Einfluß diese Medien auf die Entscheidung der Bürger bei Wahlen haben und wie sie Politiker oder Parteien systematisch fertig machen können, erkennt man, wer hier die Richtlinien der Politik bestimmt. Jeder Politiker, der seinen Posten behalten will, tut gut daran, sich erst in den Massenmedien kundig zu machen, welche Politik von seiten "der Wirtschaft" gewünscht wird, bevor er sich zu problematischen Themen äußert. Die führenden Politiker von SPD und Grünen haben dies begriffen und handeln entsprechend, da es für den Machterhalt weitaus gefährlicher ist, sich mit internationalen Wirtschaftsinteressen anzulegen, als einige weniger flexible Anhänger zu verlieren.

Die Globalisierung wird für die Arbeitnehmer der Hochlohnländer zunehmend zu einer Existenzfrage, weil die Niedriglohnländer in einer von Handelsbeschränkungen "befreiten" Weltwirtschaft am Ende die Höhe der Löhne bestimmen. Globalisierung müßte daher für linke Parteien und Gewerkschaften ein zentrales Thema sein. Trotzdem wird dort über Alternativen, wie etwa großräumige, ganz Europa umfassende Schutzzollregionen nicht diskutiert. Als Ventil für besonders aktive und radikale Linke bieten sich Großdemonstrationen anläßlich internationaler Konferenzen an, bei denen man die Muskeln spielen lassen und sich als Globalisierungsgegner ein internationales Presseecho verschaffen kann. Aber selbst diese Aktionen werden offenbar bewußt von einigen Drahtziehern in die falsche Richtung gesteuert, so daß man das Globalisierungsproblem auf die Ausbeutung der dritten Welt und auf ökologische Fragen reduziert und offenbar nicht zur Kenntnis nimmt, daß die Großindustrie über den angestrebten freien Welthandel die Arbeitskräfte global gegeneinander ausspielt und vor allem die Arbeitnehmer in den Hochlohnländern völlig aushebelt.

Etwa zwei Milliarden Billigarbeitskräfte in Asien dürfen froh sein, wenn sie einen Arbeitsplatz finden, an dem sie weniger als einen Euro Stundenlohn erhalten. An dieser Situation wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Deshalb wird die Industrieproduktion für alle Waren, die in diesen Niedriglohnländern zu angemessener Qualität hergestellt werden können, nach und nach dorthin abwandern. Dies ist ein wirtschaftliches Gesetz, das sich besonders in Zeiten einer weltweiten Gewinnmaximierungspolitik unaufhaltsam durchsetzt und im Ergebnis zu einem langsamen Ausbluten der Wirtschaft in den Hochlohnländern führen muß. Wir erleben es seit Jahren durch die Abwanderung von Industriebetrieben. Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt und nicht abwandern will oder kann, muß - sobald die entsprechende Konkurrenz aus den Niedriglohnländern auftaucht - mit dem Konkurs rechnen. Lediglich einige Spezialbetriebe können sich bei unserem Lohnniveau Überlebensnischen sichern. Die Anderen müssen sich dem Lohnniveau der Niedriglohnländer anpassen.

Dies wäre für die Linke ein Kampfthema von höchster Priorität. Doch sie schweigt. Dabei könnten sie jetzt sogar darauf verweisen, wie man das Globalisierungsproblem löst, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, eine sozialistische Planwirtschaft anzustreben. Denn sie hätten die USA als Vorbild. Diese haben vor kurzem (allerdings zunächst begrenzt auf den Bereich der Stahlindustrie) im Widerspruch zu den WTO-Verträgen hohe Schutzzölle eingeführt. Die Stahlimporte aus Niedriglohnländern hätten andernfalls die in den USA produzierende Stahlindustrie ruiniert. So etwas kann die "einzige Weltmacht" schon im Hinblick auf die eigene Rüstungsindustrie nicht zulassen, die eine autarke amerikanische Stahlproduktion braucht, um auf militärischem Gebiet nicht in zu große Abhängigkeit von anderen Ländern zu geraten. Dabei traf es sich im Hinblick auf die Wähler gut, daß man so zugleich auch eine Menge Arbeitsplätze im eigenen Lande retten konnte. Hier setzte sich die wirtschaftspolitische Vernunft gegen das neoliberale Dogma von einer weltweiten Zollfreiheit durch. Man darf sicher sein, daß bei einer sich wesentlich verschlechternden Wirtschaftssituation in den USA dieses Beispiel Schule machen wird.

Nachdem die großspurigen Prognosen vom wirtschaftlichen Aufschwung in den USA bisher nicht eintreffen und die Begeisterung für Angriffskriege der USA gegen ihre "Schurkenstaaten" nicht überall groß ist, versucht man neuerdings auf konventionelle Weise, die Konkurrenzfähigkeit der US-Wirtschaft gegenüber dem Euro-Raum zu stärken.

Man kann dies am Kursanstieg des Euro in jüngster Zeit beobachten, den einige Experten als wirtschaftlich nicht begründet und möglicherweise von den USA gesteuert ansehen. Jedenfalls verschlechtert eine Aufwertung des Euro die Exportchancen der Euro-Länder und führt zu entsprechenden Arbeitsplatzverlusten. An diesem Beispiel kann man erkennen, daß der hohe Wert einer Währung eine sehr zweischneidige Angelegenheit sein kann.

Möglicherweise sind die Tage der Globalisierung mit dem freien Welthandel schon gezählt. Zumindest ist ihr Ende zu erwarten, wenn die Globalisierung zu einer ernsten Wirtschaftskrise in den Hochlohnländern führen wird. Denn spätestens dann wird die Rechnung der globalen Konzerne mit billigster Produktion in den Niedriglohnländern und dem Verkauf zu Höchstpreisen in den Hochlohnländern nicht mehr aufgehen, weil bei letzteren die Kaufkraft drastisch sinken würde.

Die Vertreter der deutschen Wirtschaft sollten sich lieber gleich überlegen, ob es nicht besser wäre, dem Globalisierungsmodell durch Schutzzölle die Flügel etwas zu stutzen. Sie sollten dabei auch bedenken, daß ihnen nicht nur gewaltige Fehlinvestitionen und Verluste drohen. Es besteht auch die Gefahr, daß beim katastrophalen Scheitern einer völlig überzogenen weltweiten Liberalisierungspolitik die betroffenen Völker in einer radikalen Gegenreaktion zu einer sehr protektionistischen Wirtschaftspolitik oder gar zu einer Planwirtschaft zurückkehren. Zumindest dürfte dann der Ruf nach rigorosen nationalen Schutzzöllen so mächtig werden, daß Wirtschaft und Politik sich ihm beugen müßten.

Deshalb wäre es für alle Beteiligten wesentlich besser, rechtzeitig eine Einschränkung der Globalisierung vorzunehmen und den vernünftigen Mittelweg einer großräumigen Regionalisierung der Wirtschaft zu beschreiten, bei der sich die Hochlohnländer einer Region zusammenschließen und bei Zollfreiheit im Inneren angemessene Schutzzölle an den gemeinsamen Außengrenzen erheben. Damit könnten die schädlichen Exzesse einer totalen Globalisierung vermieden werden, ohne auf die wirtschaftlichen Vorteile einer gewissen Großräumigkeit zu verzichten. Bei diesem Modell könnten die Zollschranken (zur Sicherung der Chancengleichheit der Produzenten in der Großregion) auch so maßvoll gestaltet werden, daß genügend Spielräume für einen Welthandel verbleiben. Insbesondere könnte man die Schutzzollpolitik auf bestimmte Wirtschaftsbereiche (zum Beispiel Automobilindustrie usw.) beschränken. Wenn es dann im Rahmen von Angebot und Nachfrage gelänge, in den liberalisierten Bereichen die niedrigeren Produktionskosten der Billiglohnländer nach dem Import der Waren auch an die Konsumenten weiterzuleiten (etwa im Bereich der Bekleidungsindustrie), wäre auch weiterhin eine Politik des Wohlstandes für alle möglich. Ein entscheidendes Kriterium für den Wohlstand einer Großregion ist eine möglichst niedrige Arbeitslosenzahl, denn nichts ist belastender als eine ständig wachsende Zahl unproduktiver Menschen, die von immer weniger Erwerbstätigen mit "durchgefüttert" werden müssen. Im Rahmen des "Rentnerberges" kommt dieses Problem unvermeidbar auf uns zu. Wenn es durch die globalisierungsbedingte Arbeitsplatzabwanderung noch gewaltig verstärkt wird, kann sich jeder selbst die Folgen für unseren Wohlstand ausrechnen. Auffälligerweise wird das Abwandern von Unternehmen ins Ausland kaum öffentlich beklagt. Während die Zuwanderer eine Angst vor der Konkurrenz am Arbeitsmarkt schüren, kommen die Billigarbeiter, die unsere Waren produzieren, keinem zu Gesicht.

Wir wissen nicht, wie lange das inzwischen auf Gedeih und Verderb verflochtene Weltwirtschaftssystem noch ohne große Krise existieren kann. Die Gefahr, daß der Vulkan ausbricht, auf dem die "Global Players"und mit ihnen die beteiligten Völker "tanzen", nimmt wegen der Unmöglichkeit, auf Dauer eine Balance zwischen Hoch- und Niedriglohnländern zu halten, ständig zu. Leider ist derzeit zu befürchten, daß der knallharte Egoismus der Entscheidungsträger in den Unternehmen, vor allem der USA, ein rechtzeitiges Umdenken verhindern wird und daß erst der große Crash kommen muß, bevor man bereit ist, die Vernunft über kurzfristiges Gewinndenken zu stellen.

 

Manfred Ritter ist Jurist und hat zusammen mit Klaus Zeitler das Buch "Armut durch Globalisierung - Wohlstand durch Regionalisierung" verfaßt (Leopold Stocker Verlag, Graz, 2000).


 
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