© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Demokratisierung
Karl Heinzen

Alarmiert durch dramatische Umsatzeinbrüche hat sich die Musikwirtschaft auf der Kölner "Popkomm" als eine Branche präsentiert, die ihre große Zeit hinter sich weiß. Der Charme, den sie in der Erwartung ihres Niederganges entwickelt, ist aber leider gering. Anstatt stilbewußt daran zu arbeiten, daß sich wenigstens ihr Mythos, Trends gesetzt und Lebensentwürfe orchestriert zu haben, erhält, bettelt sie die Politik an, ihr durch Privilegien das Geldverdienen wieder zu ermöglichen.

50 Prozent der im Hörfunk gespielten Lieder, so forderten in diesem Sinne Popmusikfunktionäre auf der Messe, sollten Neuheiten und die Hälfte davon auch noch deutschsprachig sein. Hätten die Konsumenten die Chance, eine größere Zahl von Titeln kennenzulernen, so würden sie nämlich auch mehr von den dazugehörigen Tonträgern kaufen. Es handele sich um eine typische Win-Win-Situation: Die Radiosender hätten endlich wieder ein attraktives Programm, die Hörer würden leichter jene CDs finden, die ganz nach ihrem Geschmack sind, und die Plattenfirmen verfügten aufs Neue über Geld, das sie in die Förderung junger Talente stecken könnten. Nebenbei wäre, und das ist für die Politik sehr wichtig, die ganze Kultur bereichert.

Der Musikbranche fehlt in der Depression verständlicherweise die Muße zu subtilen Strategien. Dennoch ist der einfache Weg in einer solchen Lage selten der richtige. Umbrüche werden erst dann zum eigentlichen Desaster, wenn man sie partout nicht wahrhaben will. Genau diesen Verzicht auf Realitätssinn leistet sich jedoch die Plattenindustrie. Den Konsumenten ist der Spaß an musikalischer Unterhaltung nicht vergangen. Sie sind auch keineswegs wählerischer geworden. Sie wollen aber etwas nicht mehr gleich als kulturschöpferische Leistung anhimmeln, bloß weil es durch irgendwelche Zufälle auf CD in den Handel geraten ist, und vor allem wollen sie diesen durch das Hörerlebnis nur selten zu stützenden Anspruch nicht auch noch teuer bezahlen müssen. Moderne Technologien erlauben es, die gewünschte Beschallung des Alltags kostengünstiger als durch den Erwerb einer CD zu realisieren. Das Kopieren von Tonträgern ohne Qualitätseinbußen ist schon verbreitet, das Herunterladen aus dem Internet steht noch am Anfang. Die Musikbranche wird hiergegen keine dauerhaften Barrieren mehr errichten können. Sie sollte statt dessen an ihrem ursprünglichen Bekenntnis zu einem demokratischen Kulturbegriff festhalten, auch wenn dessen Konsequenz das Ende vertrauter Geschäftsideen ist. Jeder kann heute für wenig Geld seine Musik anderen zugänglich machen. Niemandem steht es zu, durch Marketingkampagnen diese Chancengleichheit außer Kraft zu setzen. Jedem sollte es freistehen, unbeeinflußt von ökonomischen Interessen seine Wahl zu treffen. Demokratie hat Vorrang auch vor Urheberrechten. Der Kulturanspruch der Musik ist erst wieder glaubwürdig, wenn niemand mehr von ihr leben kann.


 
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