© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
Rechtsradikalismus als Übergangsphänomen
Deutsches Forum für den Ost-West-Dialog: Die Zeitschrift "Osteuropa" und ihre Analysen benachbarter Transformationsgesellschaften
Bernd Ankermann

Wer schreiben wolle, so lautete das Credo Marion Gräfin Dönhoffs, müsse viel lesen. Wer sich diese Einsicht der jüngst verstorbenen Zeit-Chefin zu eigen macht, wenn er über Deutschlands östliche Nachbarn journalistisch informiert, für den zählt Osteuropa, die monatlich erscheinende Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens, zur unumgänglichen Pflichtlektüre. Ohne kontinuierliche Rezeption der Osteuropa-Analysen des politischen Großraums zwischen St. Petersburg und Tiflis kann wohl keine deutsche Auslandsredaktion, selbst wenn sie über Korrespondenten an Ort und Stelle verfügt, auf diesem Sektor die bescheidensten Qualitätsstandards erfüllen.

Das ist schon immer so seit 1925, dem Gründungsjahr der Zeitschrift. In der Gestalt ihrers ersten Herausgebers Otto Hoetzsch (1876-1946) war die Verbindung von Wissenschaft und politischer Publizistik personalisiert: der deutschnationale Historiker saß auf dem Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der Berliner Universität und schrieb zugleich Leitartikel in der "junkerlich"-rechten Kreuzzeitung wie in der nationalkonservativ-großbürgerlichen Deutschen Allgemeinen Zeitung. Und seine neue Zeitschrift atmete den Geist von Rapallo, wollte sich also nicht im wissenschaftlichen Elfenbeinturm isolieren, sondern auf den außenpolitischen Kurs der Weimarer Republik Einfluß nehmen. Nach 1933 wurde Hoetzsch seine prorussische Ausrichtung als "Philobolschewismus" ausgelegt, 1935 verlor er seinen Berliner Lehrstuhl, und seine Zeitschrift Osteuropa mußte 1939 ihr Erscheinen einstellen.

Hoetzschs Erbe trat 1951 sein Schüler Klaus Mehnert (1906-1984) an, auch er ein sich gleichermaßen in wissenschaftlichen wie journalistischen Biotopen tummelndes Wesen. Mehnert, der Prototyp des vom Weltgeist wöchentlich zum Frühstück geladenen Großpublizisten, gründete die Zeitschrift neu und redigierte sie ein Vierteljahrhundert lang, bevor er 1975 von dem vergleichsweise blassen Alexander Steininger abgelöst wurde, der erst in diesem Jahr den Stab an das "Kollektiv" seiner langgedienten Mitarbeiter an der Technischen Hochschule Aachen weitergab.

Die Zeitschrift versteht sich heute nach wie vor als "Forum des Ost-West-Dialogs" und erhebt den Anspruch, "Lesbarkeit mit wissenschaftlicher Genauigkeit" zu vereinigen. Daher wolle man zwar den Interessen von Forschung und Lehre dienen, sich damit aber nicht begnügen, sondern, wie es im programmatischen Impressum heißt, den "Akteuren in Politik und Wirtschaft Orientierung" vermitteln und ihnen "Handlungsoptionen" eröffnen. Um diese politischen Ambitionen zu repräsentieren, leistet sich die in Berlin residierende Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, die Osteuropa herausgibt, immer noch eine Präsidentin names Rita Süssmuth, die als habilitierte Pädagogin und eingefleischte Westdeutsche nichts vom Osten versteht, keine östliche Sprache spricht, und mittlerweile auch ihren früheren politischen Einfluß eingebüßt hat.

Immerhin signalisiert der Name Süssmuth aber, daß die Zeitschrift sich bei der Betrachtung des osteuropäischen Machtgeschiebes mitunter arg zeitgeistkonformen Wünschbarkeiten und weniger den Analysen unbequemer Realitäten öffnet. So etwa, wenn im laufenden Jahrgang Gernot Erler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und Präsident der Deutsch-Kasachischen Gesellschaft, zu den Kaukasus-Kalamitäten Stellung bezieht (Heft 2/02). Erler, der die ethno-territorialen Konfliktherde und die innenpolitische Malaise der korrupten Autokratien in Georgien, Armenien und Aserbeidschan erkennt, aber mit keinem Wort die massiven US-amerikanischen Interessen im Südkaukasus erwähnt, will allen Ernstes die Hoffnung wecken, die EU könnte die Region mit einem "Stabilitätspakt" nach Balkan-Muster befrieden - wenn sich nur die bösen Russen von ihrem Denken in Einflußzonen endlich verabschiedeten.

Modernisierungsverlierer als potentielle Rechtsradikale

Ähnlich blauäugig, allerdings sein Thema wissenschaftlich bemäntelnd, geht der in North Carolina lehrende Historiker David M. Crowe das Problem "Migration, Staatsbürgerschaft und Asyl" der "Roma in Ostmittel- und Südosteuropa" an. Hier hat Osteuropa in den letzten Jahren schon tiefschürfendere, weil die sozioökonomische Komplexität des Zigeunerproblems erfassende Beiträge geliefert. Crowe hingegen nähert sich, unter anderen Vorzeichen freilich, jenen primitiven Kommentatoren in Prag, Bukarest und anderswo, die Zigeuner als Landplage wahrnehmen, nach der Polizei rufen, oder, wie zeitweilig tschechische Kommunalpolitiker, eine Abschiebung nach Kanada als probate Lösung propagieren. Wo solche Wirrköpfe ihre Obsessionen so hemmungslos ausleben, daß sie "den" Zigeuner zum Feind schlechthin ihrer engstirnigen Ordnungsideale stilisieren, romantisiert Crowe ebenso verantwortungslos diese ethnische Minderheit als ewiges Opfer xenophober Mehrheitsgesellschaften. Daß er bei seinem Überblick über die Konfliktkonstellationen und die gewaltsamen Eskalationen der letzten zehn Jahre vielfach auf die Kommentatoren der New York Times und der Washington Post zurückgreift, denen wenig am Schicksal der Zigeuner, sehr viel aber an der politischen Funktionalisierbarkeit von deren Interessen liegt, trägt zur wissenschaftlichen Seriosität des Croweschen Besinnungsaufsatzes auch nicht gerade bei.

Dennoch kann der Leser über solche Beiträge hinwegsehen, weil die Zahl der empirisch fundierten Analysen, die umfangreichen Dokumentationen und der ausführliche Rezensionsteil ein hinlänglich starkes Gegengewicht schaffen.

Verdienen die meisten Schwerpunktthemen schon deshalb erhöhte Aufmerksamkeit, weil sie sich der wissenschaftlichen Information und nicht der politischen Meinungsbildung verschrieben haben, so gilt dies in besonderem Maße für die laufende Debatte über den "Rechtsradikalismus" in den "Transformationsgesellschaften" Osteuropas. Die kontroverse Diskussion wurde im März-Heft ausgelöst, füllte einen großen Teil der Mai-Ausgabe und nimmt nun noch einmal in der Juli-Nummer viel Platz ein, wo Markus Mathyl, Doktorand am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, sich ausführlich mit Aleksandr Dugin und dem "Neo-Nationalbolschewismus" in Rußland befaßt.

Durch die Unproduktivität der Diktatoren abgeschreckt

Dabei schien den meisten Beiträgern des März-Heftes das Phänomen des osteuropäischen Rechtsradikalismus noch keine Kopfschmerzen zu bereiten. Der Befund ließ im ersten Zugriff keine Frage offen und der Befund fiel eindeutig aus: Rechtsradikale Ideologien und Bewegungen sind dort zu finden, wo es Modernisierungsverlierer gibt. Also müsse die politische und wirtschaftliche "Modernisierung", die der einstige Ostblock nach 1989 erlebte und die eine kaum überschaubare Zahl von Verlierern in Arbeitslosigkeit und soziales Elend stürzte, dem Rechtsradikalismus zu tropischer Blüte verholfen haben. Doch war nicht zu verkennen, daß man unter diesen Prämissen geneigt war, den politischen Einfluß rechtsradikaler Parteien zu überschätzen. Auch traten bald jene Definitionsprobleme auf, die aus den politikwissenschaftlichen Analysen ihrer westeuropäischen Entsprechungen nur zu bekannt sind: Was ist rechtsradikal? Wo ist die Grenze zum "Rechtspopulismus"? Läßt sich die vielgestaltige Szenerie der "Parteien, Bewegungen, Milieus" auf einen simplen "Ultranationalismus" reduzieren, worauf der Mannheimer Sozialforscher Volker Weichsel hinweist (Heft 7/02), wo doch allzuoft das Verhältnis von Ethnie, Rasse und Religion zur Nation "unklar bleibt". Für Weichsel ist Vladimir Schirinowski noch der Vorsitzende einer "rein ethnisch-imperialen Partei". Andreas Umland, der über diese nach 1989 hochgespülte Figur seine Dissertation an der FU Berlin schrieb, weist demgegenüber darauf hin, daß der Führer einer immer bedeutungsloseren Partei spätestens seit 2001, als er seine "teilweise jüdische Herkunft" eingestand, "konsequent ethno-nationalistische beziehungsweise biologisch-rassistische Argumentationsweisen" vermieden oder relativiert habe (7/02).

Jenseits solcher definitorischen Unschärfen stellt Dieter Segert, Referent am "Ost-West-Kolleg" der Bundeszentrale für politische Bildung, die viel entscheidenere Frage: Hat der Systemwandel im Zeichen der Modernisierung wirklich ideale Voraussetzungen für extreme rechte Parteien geschaffen? Segert glaubt diese Frage mit guten Gründen verneinen zu können. Nicht nur das faktisch alle Parteien, die in den osteuropäischen Staaten - ausgenommen Polen und Bulgarien - in den neunziger Jahren bei Wahlen erfolgreich waren, in der Wählergunst verlieren. Daß die "rechtsradikale" MIÉP bei den letzten ungarischen Parlamentswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, bestätige diese "klar nach unten" zeigende Tendenz. Auch in Rumänien, wo mit der Großrumänischen Partei Vadim Tudors die einzige rechtsradikale osteuropäische Gruppierung agiere, bei der man überhaupt noch von einem Massenanhang sprechen könne, seien die Weichen für den Absturz schon gestellt. Tudors Aufstieg sei nur mit dem Zerfall der bürgerlichen Koalition, nicht mit eigenen stabilen Wurzeln zu erklären. Sobald sich das bürgerliche Lager wieder festige, werde sich Tudors Bewegung als "Übergangserscheinung" herausstellen. Vor diesem Hintergrund sei dann aber zu konstatieren, daß man vielmehr erklären müsse, warum der Rechtsradikalismus unter den vermeintlichen günstigen Bedingungen der von der Modernisierung ergriffenen Transformationsgesellschaften Osteuropas so ausgesprochen schwach sei und zukünftig auch keine Chance habe werde, nennenswerten politischen Einfluß auszuüben. Segers einleuchtende Erklärung dafür lautet, daß der Staatssozialismus bis 1989 schon eine partielle Modernisierung von Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft bewirkt habe. Daher müssen die Modernisierungsspannungen "auf dem Weg vom Staatssozialismus zu einer von Marktwirtschaft bestimmten Gesellschaft schwächer" sein als Vertreter der These vom osteuropäischen Modernisierungsschock annehmen.

Hinzu komme, daß die Osteuropäer ausreichend schlechte Erfahrungen mit den "unproduktiven Wirkungen diktatorischer Verhältnisse" gemacht hätten. Das Prinzip der Machtlegitimation durch freie Wahlen sei daher selbst bei den Eliten so weit akzeptiert, die westlichen Verfassungsmodellen skeptisch gegenüberstehen. Der Rechtsradikalismus sei also auch deshalb relativ schwach, weil nicht nur die traditionell linke Politik staatssozialistisch delegitimiert worden sei, sondern "jegliche antidemokratische Politik".


 
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