© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
Neue Technologien: "Biohype"
Wieder mal ein Paradigmenwechsel
Angelika Willig

Die Sinnstiftung ist den Menschen wohl nicht auszutreiben. Wie lange ist es erst her, daß Norbert Bolz und andere Medien-Philosophen ein "digitales Zeitalter" ausriefen, in dem sich "alles total" verändert habe und die Welt in eine Vielzahl von "virtuellen Welten" aufgesplittert sei? Keine zehn Jahre. Das mit der "Virtualität" stammt von dem Postmodernen Jean Baudrillard und bedeutet, daß zwischen Wirklichkeit und Schein kein Unterschied mehr bestehe. Deshalb ist auch den Banken zunächst nicht aufgefallen, daß ihre Kreditnehmer nichts zu bieten hatten als eine graphisch anspruchsvolle Homepage.

Dot.com ist nun geplatzt, doch statt bescheiden zu werden, stricken die Leute schon wieder an einer neuen Blase. Amgen, Biogen, Genzyme oder ImClone heißen die Unternehmen, auf die man heute setzt, wenn man "Ahnung" hat. Wer gerade erst die mentale Orientierung verloren hat, stürzt sich jetzt mit dem Mut der Verzweiflung auf die Chromosomen. Und gleich sind auch wieder die Propheten da, die das Ganze metaphysisch aufplustern: "Eine Marktgesellschaft, die sich vor allem mit der immer präziseren Lenkung durch ihre Leib-Eigentümer erhalten muß und dazu auch in der Lage ist, kann auch eine Aufklärungsvision sein", schreibt Claus Koch in der Zeit. Der "User" ist zum "Leib-Eigentümer" mutiert(!), aber die "Vision" darf trotzdem nicht fehlen.

Schon hat sich in Magazinen wie Focus, Stern oder in Frauenzeitschriften ein Biologismus dämlichster Sorte breitgemacht. Alles, was in Jahrzehnten an Psychologie hochgejubelt und mühsam eingelernt wurde, wird jetzt mit dem Bade ausgeschüttet und der größte Blödsinn geglaubt, wenn ihn nur irgendein "Hirnforscher" an irgendeinem Institut geäußert hat. Wie oft haben wir uns anhören müssen, daß seelische Störungen die Folgen einer autoritären Erziehung und inhumanen Gesellschaft sind! Inzwischen ist davon überhaupt nicht mehr die Rede. Buchstäblich jeder Beitrag über Depressionen klärt den Leser stolz darüber auf, daß es sich hier um eine "Stoffwechselkrankheit" handle, die "gut behandelbar" sei, nämlich mit Medikamenten. Doch das Zauberwort "Stoffwechsel" täuscht über die Frage nach der genetischen Ursache nur hinweg. Es ist ein neuer "softer" Biologismus, der Spaß machen soll und niemandem wehtut.

Doch die Börse ist diesmal schlauer. Biotech-Aktien haben sich in den letzten zwölf Monaten noch schlechter entwickelt als der Gesamtmarkt. Nachdem Gen-Guru Craig Venter sich vor zwei Jahren plötzlich aus der Branche zurückzog, schwand auch bei den anderen die Hoffnung auf schnelle problemlose Anwendung und auf das große Geld. "Der Geist des Kapitalismus", sinniert Koch weiter, "erlaubt keine ruhigen, schonenden Übergänge." Irrtum, wer keine ruhigen Übergänge erträgt, das sind auf Dauer nur die Verlierer.


 
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