© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
Aus der Tiefe des Erlebens
Präzise Wahrnehmung von Stimmungen: Eine Ausstellung mit Bildern Wolfgang Mattheuers in Chemnitz
Ekkehard Schultz

Jeder Versuch, Kunst in ihrem inneren Gehalt zu verstehen und zu interpretieren, bedarf einer unbefangenen Herangehensweise. Leider zeigen Geschichte und Gegenwart, daß eine solche Unbefangenheit bei der Beurteilung von zeitgenössischen Künstlern nur in den seltensten Fällen anzutreffen war und ist. So bleibt ihnen meistens nur der schwache Trost auf ein gerechteres Urteil bei der Wiederentdeckung durch kommende Generationen.

In dieser Hinsicht scheint auch der seit einem halben Jahrhundert in Leipzig lebende Künstler Wolfgang Mattheuer nicht die besten Karten zu haben, dem die Chemnitzer Kunstsammlungen in diesen Wochen anläßlich seines 75. Geburtstages (JF 16/02) eine Retrospektive widmen. Denn viel zu viele sind in ihrem Urteil befangen - Journalisten, Berufskollegen und Museumsleiter, Opportunisten und Wendehälse.

Doch dies wäre noch kein ausschließliches Kriterium für die Gunst bzw. Mißgunst von Rezipienten, hätte Mattheuer nicht auch noch das "Pech", im "falschen" deutschen Staat gelebt und von diesem eine mehr oder minder starke Anerkennung genossen zu haben. Erst vor wenigen Jahren verdeutlichte die Weimarer Kunstausstellung von 1999 mit ihren aufgeregten Debatten, daß sich die verbreiteten Auffassungen über die offiziöse Kunstszene Mitteldeutschlands zwischen 1945 und 1989 bislang kaum geändert haben: Piefig, spießig, vom Staat abhängige und nach der jeweiligen Ansicht von Kulturfunktionären geförderte Auftragskunst, hergestellt von DDR-Karrieristen - so lautet das verbreitete Pauschalurteil, das seine öffentliche Wirkung nicht verfehlte und sich in vielen Köpfen eingebrannt hat.

Es kann daher keineswegs verwundern, daß diese Themen auch im Katalog zur Chemnitzer Ausstellung aufgegriffen werden. Auch zwei erstmals in diesem Katalog veröffentlichte Interviews mit dem Jubiliar kreisen zu einem großen Teil um diese Problematik. Um so höher ist es jedoch anzuerkennen, daß dem Besucher der elf Säle im ehemaligen König Albert Museum bei seinem Rundgang die Chance geboten wird, sich dem Werk Mattheuers nicht von den kursierenden Meinungen und Vorurteilen, sondern vom Werk selbst aus zu nähern. So werden auch die wesentlichen biographischen Angaben lediglich in jenem Raum der Ausstellung präsentiert, in welchen der Besucher erst am Ende seiner Runde gelangt. So haben die Auseinandersetzungen der letzten Jahre den Platz, der ihnen allein zukommt: im Katalogband, in Form einer Hintergrundinformation.

Die Vielzahl künstlerischer Gestaltungsmöglichkeiten und Motive, die sich in den 130 für die Ausstellung zusammengetragenen Objekten widerspiegelt, bietet selbst für Eingeweihte weitgehend ungeahnte Einblicke: Neben den charakteristischen großflächigen Ölbildern, darunter den einer breiten Öffentlichkeit sehr vertrauten Motiven, wie "Hinter den sieben Bergen", "Die Ausgezeichnete" oder dem "Sturz des Ikarus" sind eine größere Anzahl kleinerer Kohle- und Bleistiftzeichnungen sowie Skulpturen zu entdecken. Selbst bei einem kurzen Überblick fällt auf, daß eine der größten Stärken Mattheuers in der präzisen Wahrnehmung und bildhaften Umsetzung von Stimmungen liegt. Dabei kann die Wahl eines konkreten Objektes noch so unterschiedlich ausfallen: Egal, ob es sich um Landschaftsdarstellungen, vorzugsweise seiner Geburtsheimat, dem sächsischen Vogtland, oder seiner Wahlheimat Leipzig handelt; um Selbstporträts, Zeichnungen von Personen des engen Familienkreises oder auch alltägliche Gegenstände, wie etwa Werkzeug und Obst auf einer Gartenbank oder die an einem Baum hängende, vom Wind bewegte Wäsche - jedesmal versteht es Mattheuer vorzüglich, mit einer äußerst genauen Beobachtung den Alltag als etwas Besonderes, sich stetig Veränderndes und damit auch immer wieder Neues zu erfassen.

Rückgriff auf antike und mythologische Symbolik

Häufig stehen antike und biblische Motive im Mittelpunkt der Darstellungen Mattheuers, insbesondere natürlich bei der Kategorie seiner "Symbolbilder". Diese Symbolik läßt sich nicht nur auf seine Liebe zu klassischen literarischen Stoffen oder die Verschlüsselung einer allzu präzisen Zeitkritik zurückführen. Mattheuer selbst hat darauf hingewiesen, daß mit dem Rückgriff auf antike oder mythologische Symboliken ein viel umfassenderer, allgemeiner Bezug auf sich wiederholende Handlungsweisen und Sackgassen menschlichen Verhaltens ermöglicht werden sollten. Es hieße schließlich seine Kunst wesentlich zu reduzieren, wenn hinter jedem Bild nur eine Aussage zu konkreten politischen und gesellschaftlichen Fragen ihrer Entstehungszeit vermutet würde.

Daher bleibt seine Kunst auch stets vordergründig mehrdeutig, was eine große Variabilität hinsichtlich ihrer Interpretation ermöglicht. Beliebigkeit verbirgt sich dahinter allerdings nicht: Schließlich verweist Mattheuer durch die mehr oder weniger konkret gestaltete Darstellung des Hintergrundes, der Landschaften und Menschen in ihrer Form eindeutig auf den zeithistorischen Kontext.

Interessant ist auch ein Blick auf die Stilistik Mattheuers. Sicherlich kann sie für sich beanspruchen, besonders revolutionär oder außergewöhnlich eigenwillig zu sein. Um so beeindruckender zeigen allerdings die ausgestellten Werke, wie Mattheuer in einem Prozeß der kontinuierlichen Weiterentwicklung eine Vielzahl von Möglichkeiten des figürlichen Realismus nutzt und damit zeigt, daß auch in diesem Bereich noch keineswegs alle Varianten erschöpft und ausgereizt sind. Dennoch ist Mattheuers Stilistik "berechenbar". Vielleicht liegt aber gerade darin ein zusätzlicher Reiz seines Gesamtwerks, daß auch den künstlerischen Laien stets ein Wiederentdecken ermöglicht - im Gegensatz zu dem ständigen Auf und Ab, das ein Spiel mit kurzlebigen Moderichtungen abnötigt, und von dem sich Mattheuer in einer beinahe anachronistisch erscheinenden Art positiv abhebt.

Viel wichtiger als eine oberflächliche Stildiskussion ist für Mattheuer - nach eigener Aussage - "die Tiefe des Erlebens, nicht aber die Vielzahl oberflächlicher Eindrücke". Dies läßt allerdings auch den Schluß zu, daß das von dem Künstler beklagte, wenig glückliche Verhältnis zu neuen und alten Kunsteliten, sein Ärger über die Ignoranz von Journalisten und Ausstellungsmachern sich - parallel zur DDR-Vergangenheit - eher förderlich als hinderlich auf die Kreativität bei der Auswahl neuer Thematiken und auch auf sein Gesamtwerk ausgewirkt haben und weiterhin auswirken. Ein Mattheuer, der sich nicht kontinuierlich am Zeitgeist und den durch ihn gesteckten Grenzen reibt, ist undenkbar.

Vielleicht könnte zur Überwindung der leidigen Debatte über den Standort der bildenden Kunst der DDR ein Blick auf ein anderes Genre helfen, bei dessen Beurteilung schon seit Jahren offensichtlich andere Maßstäbe gelten: So wird heute zahlreichen DDR-Filmen - nicht nur denen der "Tauwetterperiode" Mitte der sechziger Jahre - ein durchaus kritisches Potential zugestanden. Inzwischen hat diese Entwicklung fast in ihr Gegenteil umgeschlagen: Selbst offensichtliche Propagandafilme der SED-Diktatur haben sich mittlerweile einen festen Platz im Programm nicht nur der mitteldeutschen Fernsehanstalten erobert. Wenn man der bildenden Kunst nur einen Bruchteil dieses Freiraumes ließe, wäre allen Seiten wesentlich geholfen.

 

Wolfgang Mattheuer, "Gesicht zeigen" (1981): Am Zeitgeist reiben

Wolfgang Mattheuer, "Der verwunderte Zeitungsleser" (1972)

Die Ausstellung "Wolfgang Mattheuer - Retrospektive" ist noch bis zum 22. September täglich außer montags von 12 bis 19 Uhr in den Kunstsammlungen Chemnitz, Theaterplatz 1, zu sehen. Tel.: 03 71/4 88 44 24. Der Katalog kostet 17 Euro.


 
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