© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
Schweizer Käse
Kino: "Brennen im Wind" von Silvio Soldini
Claus-M. Wolfschlag

Tobias (Ivan Franek) ist als Arbeiter in einer Schweizer Uhrenfabrik tätig, hat eine hübsche Freundin und trifft sich des öfteren mit osteuropäischen Landsleuten in einer Kneipe. Trotz seiner durchschnittlich erscheinenden Fassade unterscheidet er sich von seinen Kollegen und Kumpanen: Da ist die düstere Vergangenheit, welcher er sich durch Annahme einer neuen Identität zu entledigen versuchte, da ist jene innere Unruhe, die ihn, trotz seiner teilnahmslosen Gesichtsmaske, zu verzehren, zu töten scheint, und da ist diese Unzufriedenheit, die sich aus der Hoffnung auf die große Liebe nährt. Da taucht auf einmal die Frau seiner Träume in der Uhrenfabrik auf, aber sie ist nicht frei ...

"Brennen im Wind", der im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale lief und nach dem Bestsellerroman von Agota Kristof gedreht wurde, versteht sich als Manifest gegen faule Kompromisse und die Bequemlichkeit eines gut funktionierenden Lebens. Das ist löblich, doch haben "Manifeste" oft an sich, in Plattitüden zu erstarren.

Schon der Rückblick in Tobias' Jugend wirkt wie ein Rührstück aus dem 19. Jahrhundert. Die Mutter, jung und attraktiv, in einer düsteren Bude hausend, verdingt sich als Dorfhure für allerlei Bauern, um ihr schmutziges Kind mit Brot und Wasser versorgen zu können. Eine heilige Prostituierte also, aus dem romantisch aufgeladenen Klischee-Katalog lebensfremder Filmhochschüler. Der Vater des kleinen Tobias ist natürlich der Herr Lehrer, ein Mann mit feinen Händen, der regelmäßig die junge Hure aufsucht. Denn natürlich: Junge Huren stehen auf gebildete, feinsinnige Intellektuelle, die dann die armen Mädchen aber meistens schmählich sitzen und in Armut vegetieren lassen ...

Nach einigen Jahren dann begeht der halbwüchsige Tobias einen Anschlag auf seinen vermeintlichen Vater, flüchtet, indem er - wie weiland Forrest Gump - wochenlang einfach fortrennt, sich von milden Gaben ernährt, und landet schließlich in einem Jugendheim. Oliver Twist läßt grüßen. Und irgendwann ist er dann erwachsen und Uhrenmonteur, denkt aber jeden Tag an das kleine Mädchen, seine Halbschwester wie sich herausstellt, die in der ersten Klasse einmal neben ihm auf der Schulbank saß. Just, nach zwanzig Jahren des Wartens, entdeckt er sie wieder, in seinem Schweizer Dorf, im Bus, auf der Fahrt zur gemeinsamen Arbeit in der gleichen Fabrik. Was für ein Wunder.

Damit dieses melodramatisch aufgeladene Kitsch-Märchen auch funktioniert, muß zuerst ein Ehemann her (sonst wäre alles zu einfach), der sich allerdings als gefühlloses Ekel entpuppt (sonst wäre kein Happy-End möglich), und natürlich muß sich auch die Frau in den liebevoll-engagierten Tobias vergucken (sonst wäre das Märchen kein Märchen, sondern zu lebensnah). Absurder Käse, den uns Regisseur Silvio Soldini da auftischt, auch wenn er im Gewand des vermeintlich lyrischen Künstlerfilms daherkommt.

Angereichert noch mit etwas sozialem Engagement für angeblich hungernde osteuropäische Einwanderer und kreative Kunstschaffende, die in düsteren, scheinbar seit 100 Jahren nicht renovierten Buden hausen. Auch eine Art von Lebensstil. Tobias ist nämlich natürlich nicht nur ein Monteur, der in der Fabrik jobbt, sondern in seiner Freizeit ein talentierter, aber unbeachteter Schriftsteller. Natürlich. Verkannte Kunst, verkannte Liebe.

Ein Schelm, der da nicht an ein Selbstbild des Romanautors sowie des Regisseurs denkt. Folgerichtig behauptet die Verleihfirma in ihrer Werbeaussendung auch vermessen, daß Regisseur Silvio Soldini ("Brot und Tulpen") "mit diesem kompromißlos leidenschaftlichen Film zu den ganz großen europäischen Regisseuren" gehöre. Na denn, mit einer Portion Größenwahn kann man sich auch einen Namen machen.

Zwar bietet "Brennen im Wind" einige ästhetisch ansprechende Aufnahmen der Schweizer Kleinstadtwelt. Bei soviel Klischee und Konstruktion in der Geschichte helfen aber auch die sich melancholisch und sensibel gerierenden Lebensbilder der Akteure kaum noch dazu, die Glaubwürdigkeit dieses zwar durchaus liebenswert gemeinten, aber überlang und langweilig geratenen Streifens zu retten.


 
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