© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
Resultat einer Gesellschaft
Kino: "Der Brief des Kosmonauten" von Vladimir Tobrica widmet sich dem Schicksal einer Spätaussiedler-Familie
Ellen Kositza

Die deutschstämmige Familie Wormsbecher lebt in den Weiten der sibirischen Steppe. Vater und Sohn haben jeder einen Lebenstraum, an den sie fest glauben: der zehnjährige Heinrich (Frederick Lau) möchte als Kosmonaut den Mars erforschen, der Vater (Oliver Bäßler) mit seiner Familie endlich nach Deutschland aussiedeln. Als der Ausreiseantrag endlich genehmigt ist, ziehen Vater, Mutter, Kind nach München und wollen sich dort als gute Deutsche in die westliche Gesellschaft integrieren.

Vor allem der Vater legt Wert darauf, daß auch zu Hause nur deutsch gesprochen wird, und einen kleinen sozialen Aufstieg aus dem Hochhausghetto erhofft er sich durch die Aufnahme in einen örtlichen Kleingärtnerverein: "Heinrich, stelle dir vor, dann hätten wir Land, ein kleines Stückel zwar nur, aber doch Land, Boden, der uns gehört!", schwärmt der Vater nach dem ersten positiven Sondierungsgespräch mit dem spießigen Kleingartenvorstand und vollführt unbeholfene Hopser auf der grauen Straße. Heinrich mit seiner ärmlichen Kleidung und seiner anachronistisch wirkenden Sprache, die sich oft auf Gott und dessen Gebote bezieht, findet nur schwer Anschluß unter Gleichaltrigen. Der Gegensatz zwischen den Werten, die ihm in seiner streng christlichen Schule vermittelt werden und dem Draußen mit seiner Kälte und der allgegenwärtigen schrillen Werbung, ist ihm nicht begreifbar.

Nach dem überteuerten Zweite-Hand-Kauf eines schon lädierten Plastik-Astronauten, der sein liebster Freund wird, raubt eine Bande Jugendlicher das Kind aus. Als er zu Hause nicht zu gestehen wagt, wo die fehlenden Geldscheine verblieben sind, kommt es zu einem heftigen Streit mit seinem Vater. Dabei erfährt Heinrich, daß er adoptiert wurde. Er reißt am selben Abend aus, stromert durch den Regen und legt sich schließlich in einer Kleingartenlaube zum Schlafen. Dort gerät er in die Fänge einer Gruppe asiatischer Russen, die illegal in Deutschland leben und sich durch Diebstähle Geld für gefälschte Pässe ergaunern wollen. Sie nehmen Heinrich als eine Art Geisel, gewinnen aber bald Zutrauen zu dem lieben Jungen, der ihnen, verständnislos über die Sündhaftigkeit des Tuns, bei ihren Diebestouren behilflich ist.

Mit Ruslan (Luk Piyes aus dem Film "Kanak Attack"), einem der Ganoven, die alle den kindlichen Traum einer Superstar-Karriere in Amerika haben, entwickelt sich eine zarte Freundschaft. Der melancholische Außenseiter, der Heinrich als ein begnadeter, leider noch unentdeckter Mundharmonikaspieler erscheint, spielt traurige Melodien aus den Weiten seines Landes und erzählt dem Jungen von seinen Träumen von Ruhm und Ehre einerseits, von seiner Sehnsucht nach Familie und Heimat andererseits. Warum es Reiche und Arme gibt, versteht Heinrich nicht, und er begreift auch nicht, warum man rote Ampeln mißachtet und U-Bahn-Fahrgästen ihre Geldbörsen klaut, aber er lernt, daß das Leben wohl eben so ist. Als er schließlich von der Polizei aufgegriffen und wieder seinen Eltern zugeführt wird, ist Heinrich zwar schlauer, doch glücklicher ist er nicht. Und er ist kein Kind mehr, sondern Resultat einer Gesellschaft.

"Der Brief des Kosmonauten", mit 1,2 Millionen DM durch die Bayrische Filmförderung unterstützt, ist schon allein durch seine Spätaussiedler-Thematik ein außergewöhnlicher Film. Obwohl es Nachwuchsautor und Regisseur Tobrica nicht gelingt, sich von einigen der sattsam bekannten Klischeebilder zu befreien - das gilt vor allem für die ausgelatschte Täter-Opfer-Konstellation -, ist ihm eine tief bewegende Geschichte gelungen. Tobrica schöpft dabei aus eigenen Erfahrungen, den Film hat er seinem Vater gewidmet.


 
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