© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002


Das Fundament droht zu bersten
Meinhard Miegel über das Ende der deutschen Wohlstandsillusionen
Michael Wiesberg

Der Prophet gilt im eigenen Lande nichts. Diese gern zitierte Sentenz trifft mit Sicherheit auf den Direktor des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, Meinhard Miegel zu, dessen Bücher mit Fug und Recht beanspruchen können, den Deutschen aufzuzeigen, was ihnen die Stunde geschlagen hat. Ähnlich wie bei dem Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim kann auch im Hinblick auf Miegel festgestellt werden, daß dessen Angriffe auf die etablierten Machtstrukturen in Deutschland immer nuancierter ausfallen. Von Arnim spricht inzwischen mit Blick auf den deutschen Parteienstaat von einem "System", dem er vorwirft, nach völlig anderen als den im Grundgesetz fixierten Regeln zu funktionieren.

Miegel hat die gesamte deutsche "Gesellschaft" im Blick, der er bescheinigt, "deformiert" zu sein, weil diese die Realitäten ignoriert. Eine berechtigte Kritik, denn in den gut zehn Jahren, die inzwischen seit dem Erscheinen von Miegels zentraler Untersuchung "Das Ende des Individualismus. Die Kultur des Westens zerstört sich selbst" verstrichen sind, ist in Deutschland politisch so gut wie nichts geschehen. Die "demographische Zeitbombe", wie Miegel schreibt, tickt weiter. Statt Antworten auf die drängende Frage zu geben, mit welchen Initiativen die Geburtenrate in Deutschland wieder gesteigert werden könnte, setzt die rot-grüne Bundesregierung beispielsweise das Thema "Homo-Ehe" auf die Agenda. Fast resigniert konstatiert Miegel: "Während die Politik auf offener Bühne hingebungsvoll über Nebensächlichkeiten streitet (...) birst das Fundament." Die Politik schafft keine Orientierung mehr, weil sie längst nicht mehr Vor- sondern nur noch Nachhut ist. Mit fatalen Folgen, denn ein "Treck, der die Nachhut für die Vorhut hält, geht in die Irre". Der Treck, das sind die Deutschen, die dabei sind, sich als Volk aus der Geschichte zu verabschieden.

Unwillkürlich drängt sich mit Blick auf die Lage der Deutschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts der berühmte Satz des französischen Philosophen Michel Foucault auf, der der Meinung war, daß der Mensch wie ein "Gesicht im Sand" am Meeresufer verschwinden werde. Übertrieben? Keineswegs. Miegel prophezeit nicht nur den Deutschen, sondern den Westeuropäern insgesamt eine Völkerwanderung, wenn sie sich weiter den demographischen Fakten verweigerten: "Sollte es den Westeuropäern nicht gelingen, Mittel- und Osteuropa in einem überschaubaren Zeitraum zu stabilisieren", schreibt Miegel, "könnte es aufgrund des starken gesamteuropäischen Bevölkerungsrückgangs und des gleichzeitigen starken Bevölkerungswachstums in Teilen Asiens allerdings auch zu ausgedehnten eurasischen Wanderungen kommen, die - bei allen historischen Unterschieden - den Völkerwanderungen des 4. bis 6. Jahrhunderts ähneln würden." Polen und Rumänen könnten sich in großer Zahl in Deutschland niederlassen. Und weiter: "Berlin könnte in zwei Generationen faktisch zu einer polnischen Stadt werden. In die Heimatländer der Zuwanderer könnten Russen, Ukrainer und andere einrücken, die ihrerseits durch Zuzügler aus noch östlicheren Regionen ersetzt werden. Wer solche Überlegungen als Hirngespinste abtut, kennt die Geschichte nicht." Der westeuropäische Raum, insbesondere aber Deutschland stehen vor einer Zeitenwende. Die Restdeutschen und mit ihnen der größte Teil Westeuropas werden in jeder Beziehung Neuland betreten, weil niemals zuvor in der Geschichte Gemeinwesen mit derartigen Bevölkerungsrückgängen konfrontiert worden sind wie die westeuropäischen.

Die von Miegel präsentierten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Vom Geburtsjahrgang 1960 an wird ein Drittel der Deutschen ohne Enkel sterben. Damit, so stellt Miegel nüchtern fest, wird die Hälfte der deutschen Bevölkerung in der nächsten, spätestens in der übernächsten Generation keine Nachkommen mehr haben. Ein Fünftel der Bevölkerung hat keine Geschwister, noch mehr Menschen keinen Onkel, Tante, Neffen oder Cousine. Kurz, verwandtschaftliche Beziehungen verschwinden rapide. Somit läßt auch hier die Sinnstiftung nach. Mitteldeutschland und auch Berlin werden weiter entvölkert werden, Berlin auf die Größe Hamburgs schrumpfen. Diese Entwicklung hält Miegel für unausweichlich. Die Deutschen werden, sollte es nicht zu einer substanziellen Besinnung kommen, einen Teil ihrer angestammten Siedlungsgebiete freiwillig kraft Selbstauslöschung räumen.

Miegel bleibt aber nicht bei apokalyptischen Szenarien stehen, sondern versucht Lösungsperspektiven aufzuzeigen. Diejenigen, die er anbietet, dürften vielen Zeitgenossen freilich kaum schmecken. Dies gilt insbesondere für die politische Klasse in Berlin, die das unvermeidliche Ende der deutschen Spaß- und Konsumgesellschaft zu "kommunizieren" haben wird. Die Deutschen haben nach Miegel in den letzten dreißig Jahren ihre Zukunft so gut wie verspielt, weil sie viel zu wenig Kinder großgezogen haben. Das hatte zunächst nur angenehme Folgen. Jährlich ersparte sich die deutsche Bevölkerung Aufwendungen in Höhe von 75 Milliarden Euro, die sie hätte aufbringen müssen, um eine bestandserhaltende Zahl von Kindern großzuziehen. Das ergibt in 30 Jahren eine "Ersparnis" von zwei Billionen Euro. Dieser Betrag ist allerdings zum größten Teil in Konsum vervespert worden. Aus den Deutschen ist ein Volk von "Verbrauchern" geworden. Gespart wird kaum noch. In Zukunft stehen die Restdeutschen deshalb vor folgender Alternative: Entweder ziehen sie deutlich mehr Kinder groß oder sie bilden deutlich mehr Kapital. Beides heißt unter dem Strich aber Konsumverzicht. Derzeit wird den Deutschen weder das eine noch das andere abverlangt. Sie haben zum einen zu wenig Kinder und bilden die wenigen, die sie noch haben, auch noch schlecht aus. Zum anderen verzichten sie darauf, genügend Kapital zu bilden, um hinreichend produktive Arbeitsplätze und so die Grundlage für die eigene Altersversorgung sicherzustellen. Was von einer derartigen Mentalität zu halten ist, drückte Miegel in einem Interview wie folgt aus: "Widersinniger kann sich eine Gesellschaft nicht verhalten."

Aus all dem ergibt sich, daß die Deutschen auch in Zukunft gezwungen sein werden, Ausländer ins Land zu holen. Statt die eigenen Kinder zu finanzieren, wird seit Jahrzehnten in Zuwanderer investiert, was, auch daran läßt Miegel keinen Zweifel aufkommen, unter dem Strich wesentlich teurer kommt. Denn Zuwanderer müssen ausgebildet und in eine hochkomplexe Arbeitswelt integriert werden. Sie müssen die Sprache erlernen und kulturelle Unterschiede kompensieren. Viele der nach Deutschland unerwünscht zugewanderten Ausländer können oder wollen dies nicht leisten, was auch das Ergebnis einer Politik ist, die nationale Interessen nicht mehr kennen will. Die Folgen können an den Anteilen der Ausländer in der Sozial- und Arbeitslosenhilfe abgelesen werden. Zuwanderung ist eine besonders teure und riskante Art der Zukunftsvorsorge. Sie kommt den Deutschen umso teurer, je "humanitärer" sich ihre Politiker gebärden.

Es steht leider zu befürchten, daß Miegels Schrift die Restdeutschen nicht aus ihren Dämmerzustand herausreißen wird. Die dürftige Rezeption, die dieses Buch bisher erfahren hat, ist dafür ein erster Indikator. Viele Deutsche scheinen nach dem Motto zu leben: Wozu sich noch um die Zukunft sorgen, wenn ich sowieso keine Nachkommen mehr habe?

Meinhard Miegel: Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen. Propyläen-Verlag, Berlin, München 2002, gebunden, 287 Seiten, 22 Euro


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