© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Dorfstrukturen werden preisgegeben
Sachsen-Anhalt: Die Schließung weiterer Schulen in der ländlichen Region stößt auf großen Widerstand bei Schülern, Lehrern und Eltern
Ellen Kositza

Hätte den August hindurch nicht die "Jahrhundertflut" und ihre spektakulären Auswirkungen die Zeitungen gefüllt, wäre ein anderer Vorfall in Mitteldeutschland geeignet gewesen, auch überregional Schlagzeilen zu machen.

Seit Beginn des sachsen-anhaltinischen Schuljahres in der ersten Augustwoche weigerten sich 95 Schüler des Ortes Westerhausen bei Quedlinburg, die ihnen seit diesem Sommer zugewiesene Sekundarschule in der Kreishauptstadt zu besuchen. Nach dem Ablauf eines vom Schulamt Halberstadt gestellten Ultimatums hatten die betroffenen Eltern eine Zwangsgeldandrohung in Höhe von 1.000 Euro zugestellt bekommen: Das sind mit einem Schlag mehr Bußgeldverfahren als im gesamten vergangenen Jahr in ganz Sachsen-Anhalt in Schulangelegenheiten eingeleitet wurden. Unter dem behördlichen Druck waren die Eltern nach zehn Streiktagen dann ihrer Pflicht nachgekommen, ihre Kinder in die angeordnete Schule nach Quedlinburg zu schicken, allein: Die Kinder entzogen sich nun der elterlichen Anweisung und streikten weiter. Streiken bedeutete dabei nicht, den Unterricht zu schwänzen: Zwei pensionierte Lehrerinnen sowie der Ortschronist von Westerhausen unterrichten auf dem Pausenhof - bei Regen dichtgedrängt unter einem Vordach - der zu schließenden Schule Mathematik, Deutsch und Heimatgeschichte.

Bereits seit 1994 ist die Westerhausener Schule formal eine Nebenstelle der Bosseschule im sieben Kilometer entfernten Quedlinburg, dieses Jahr nun, so sieht es der Schulentwicklungsplan vor, soll Westerhausen für die Schüler der Klassen sieben bis zehn dichtmachen, die fünften und sechsten Klassen sollen im kommenden Jahr folgen. Das Schließen der örtlichen Schule für die Klassen sieben bis zehn reiht sich ein in 28 weitere Schulschließungen, die für dieses Schuljahr in Sachsen-Anhalt beschlossen worden sind, weil die Mindestzahl von 160 Schülern unterschritten wird.

Für Eberhard Heintze, Gastwirt und seit 1994 parteiloser Bürgermeister der mit 2.900 Einwohnern größten Gemeinde im Landkreis Quedlinburg, besitzt der Kampf um den Erhalt der Dorfschule exemplarischen Charakter. Pisa und Erfurt, gibt er zu bedenken, hätten gezeigt, daß die billigsten Lösungen, die nur auf oberflächliche Rentabilität ausgerichtet seien, nicht die besten sein müssen. Daß ein Schüler in einer großen, wohnortfernen Schule rascher zur bloßen "Nummer" wird, individuelle Betreuung nicht gewährleistet sein kann, liegt auf der Hand. Also: Die Schule im Dorf lassen! Dabei bietet Westerhausen, idyllisch zwischen Quedlinburg und Blankenburg gelegen, all das, was man eine intakte Dorfstruktur zu nennen pflegt und zudem eine wohl konsolidierte Haushaltslage, alles in allem ein Ort, der sich seine eigene Schule in übersichtlicher Größe verdient hat - und sie sich auch gern etwas kosten lassen möchte: Der Bürgermeister hat in Gesprächen mit Schulamt und Kreistag bereits angeboten, als Sofortmaßnahme 150.000 Euro für neue Physik- und Chemieräume in der ohnehin wohlausgestatteten Westerhausener Schule zu investieren - dies freilich nur, wenn der Standort auf Dauer gesichert bliebe. Die Haushaltslage des Landkreises Quedlinburg dagegen ist so marode, daß dringend notwendige Verbesserungen an der in Teilen baufälligen Bosseschule in absehbarer Zeit gar nicht vorgenommen werden können.

Dem wackeren Bürgermeister drohte wegen seiner Unterstützung des Streiks neben Disziplinarmaßnahmen letztlich gar ein Amtenthebungsverfahren. Einen Maulkorb will sich Heintze dennoch keinesfalls verpassen lassen. "Wenn sich die Verantwortlichen des Kreistags persönlich damit besser fühlen, würde ich sogar freiwillig zurücktreten", bekundet Heintze, gebürtiger Thüringer und seit 15 Jahren Wahl-Westerhausener, kämpferisch, "aber nur, um mich noch stärker und besser für die Belange meines Ortes einsetzen zu können."

Während die Landesgruppe der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) den in solcher Form bislang einzigartigen Schulstreik billigte, unterstützten die Fraktionen von PDS und FDP die Kreisverwaltung: In Westerhausen würden Kinder zu kommunalpolitischen Zwecken instrumentalisiert.

Mittlerweile hat sich der Evangelische Kirchenverband des Kreises als Vermittler eingeschaltet, und so fanden in den vergangenen Tagen parallel zu einer weiteren Großkundgebung in der Quedlinburger Innenstadt ein Rundes-Tisch-Gespräch mit dem Quedlinburger Landrat, Vertretern des Kultusministeriums und dem Schulaufsichtsamt statt. Resultat: Eltern und Schüler lenken ein, der Landkreis verzichtet im Gegenzug auf jegliche Sanktionen gegen die bislang Streikenden. Dirk Friedrich Reddemann aus Halle setzt sich als Rechtsanwalt für die Westerhausener Eltern- und Schülerinitiative ein und zeigt sich überwältigt von der Solidarität, die dem aufständischen Dorf entgegengebracht wurde. Regionale Bäcker, Metzger und Getränkehändler hätten die Schulstreiker kulinarisch unterstützt, und auch das Spendenkonto der Initiativgruppe erfreue sich reger Unterstützung. Reddemann hofft trotz des einstweiligen Scheiterns auf eine politische Lösung im Sinne der Kinder - und das wäre zweifelsohne ein Schulerhalt. Geplant ist ein Vortragen des Anliegens vor dem Landtag und weitere Demonstrationen. Tatsächlich sind die bundesweit sinkenden Schülerzahlen und damit einhergehenden Schulschließungen ein Thema, daß es grundsätzlich anzugehen gilt: Allein bei den Grundschülern steht einem Minus von 2,6 Prozent in den Altländern ein Rückgang von satten 13,6 Prozent in den neuen Bundesländern gegenüber, ein Defizit, das neben dem allgemeinen Geburtenknick der Nachwendezeit vor allem auf den Wegzug von arbeitssuchenden Eltern in die Westländer zurückzuführen ist. Als geradezu eklatant erscheint der Kindermangel, wenn man der Gesamtzahl der Schüler an allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt des Schuljahres 1997/98 die Prognose für das Schuljahr 2008/09 gegenüberstellt: Danach wird sich die Schülerzahl binnen dieses Vergleichzeitraums von etwa 385.000 auf 207.000 reduzieren. Schulen deshalb in Städten zu zentrieren, dürfte dabei nicht die einzige, vor allem nicht die förderlichste Lösung sein: Einmal mehr stehen hier rein wirtschaftliche Einsparungen statt die Erschließung von Bildungspotentialen im Vordergrund. 


 
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