© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Kolumne
Kollektiver Ruck
Klaus Motschmann

Seit Jahren wird in Deutschland von der Notwendigkeit eines "Rucks" gesprochen. Nun ist er da, ausgelöst durch die Hochwasserflut und allenthalben spürbar durch ein unerwartet hohes Maß an Hilfsbereitschaft quer durch alle Parteien und Gesellschaftsschichten unseres Volkes, ausgenommen jene, die uns ausgerechnet in diesen Wochen davon überzeugen möchten, daß "durch Deutschland ein Joint" gehen müsse. Es bestätigt sich ein weiteres Mal, wie schon nach dem Fall der Berliner Mauer, daß ein in Jahrhunderten gewachsenes Zusammengehörigkeitsgefühl eines Volkes vorübergehend zwar zurückgedrängt, aber nicht auf Dauer verdrängt und ignoriert werden kann. In Zeiten schwerer Katastrophen erweist es sich immer wieder als Garant der Bewältigung und widerspricht damit allen internationalistischen Ideologien und Theorien, die das Heil dieser Welt unbeirrt von allen Erfahrungen der Geschichte noch immer in supranationalen Gesellschaftssystemen vermuten.

So resistent wie sich das Volk gegen den Einfluß wirklichkeitsfremder Ideologien auf das Denken und Handeln erweist, so resistent erweisen sich die Ideologen gegen alle Erfahrungen der Wirklichkeit. Auch in diesen Kreisen wird der "Ruck" wahrgenommen, allerdings als ein neuerliches Indiz für einen "Ruck nach rechts", wie er auch schon anläßlich der Fußballweltmeisterschaft im Juni festgestellt worden ist. So konnte in einer großen Tageszeitung vor einem Überschwang nationaler Gefühle wie folgt gewarnt werden: "Wo Deutsche Deutschen helfen, sind die Flutopfer in Ungarn, Österreich oder Tschechien irrelevant - ganz zu schweigen vom gegenwärtigen China oder den alljährlich in Indien oder Bangladesch wiederkehrenden Fluten, die tausende Tote fordern. 'Deutsche helfen Deutschen' baut eher darauf, daß im kollektiven Assoziationspool die Bilder der Backsteine und Eimer weiterreichenden Trümmerfrauen geweckt werden."

Unbewußt und in anderer Absicht ist damit die entscheidende Antwort auf die Frage nach dem relativ raschen Wiederaufstieg Deutschlands nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs gegeben: Wir verdanken ihn in erster Linie nicht allen möglichen Wirtschaftsplänen und Reformen, auch nicht der wichtigen Finanzhilfe des Marshallplans (in Höhe von circa 1,5 Milliarden Dollar, mehr war es nicht) im Westen und den Enteignungen im Osten, sondern vor allem der Opferbereitschaft von Millionen Deutschen. Sie haben in relativ kurzer Zeit die Grundlagen für ein gut funktionierendes Wirtschafts- und Sozialsystem aufgebaut, das sich auch in diesen Wochen bewährt und Grund zur Hoffnung bietet. Aber wie lange noch?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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