© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Ein Lob der Skepsis
Zeitgeist-Avantgardismus und Konformitätszwang: Warum es klüger ist, allen Gewißheiten zu mißtrauen und jede Dogmatik anzuzweifeln
Jochen Schaare

Carl Schmitt schrieb in seiner berühmten Schrift "Die geistesge schichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" im Jahre 1923 über die Avantgarden: "Der Weltgeist faßt sich auf der jeweiligen Stufe seiner Bewußtheit zunächst immer nur in wenigen Köpfen. Das Gesamtbewußtsein der Epoche tritt nicht mit einem Schlag bei allen Menschen und auch nicht bei allen Mitgliedern des führenden Volkes oder der führenden sozialen Gruppe auf. Immer wird es einen Vortrupp des Weltgeistes geben, eine Spitze der Entwicklung und der Bewußtheit, eine Avantgarde, die das Recht zur Tat hat, weil sie die richtige Erkenntnis und Bewußtheit hat... Daß eine Epoche im menschlichen Bewußtsein erfaßt wird, erbringt für die historische Dialektik den Beweis, daß die erkannte Epoche historisch erledigt ist."

So ist es klar, daß die Avantgarden in einem Modell dialektisch prozessierender Geschichte ein einheitliches, gleichsam globales System errichten, ursprünglich fremde Felder selbst besetzen und kategorial getrennte Felder in sich vereinigen wollen. Das Gesamt von Gesellschaft und Politik soll im eigenen System Verwirklichung finden und meint einen universalistischen, auf Totalität zielenden Avantgardeanspruch, der aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts bekannt ist. Das Recht zur Tat haben sich viele genommen, und Carl Schmitt wußte darum, daß die Niederträchtigkeit der Menschen kaum gezügelt werden kann. Simplizität und Vulgarität sind häufig die Bedingungen des Erfolgs von Avantgarden.

Die Rolle der Intellektuellen ist in diesem Zusammenhang prekär, denn sie sind - wie der Hochschullehrer Rudolf Burger, Träger des Österreichischen Staatspreises - schreibt, in Wahrheit Konformisten, die unter dem Banne eines avantgardistischen "Nichtkonformitätskonformismus" stehen, einem Phänomen, das unter Minderheiten grassiert. Die Nachgiebigkeit gegenüber dem Druck der ingroup wird dabei verinnerlicht und freies, innovatives Handeln bleibt auf der Strecke, da häufig nach ideologischen Vorgaben gehandelt wird.

Die Sinnleere wird mit Befreiungsakten übertönt

Auf die Intellektuellen ist unter solchen Umständen also kaum zu rechnen. Früher nannte man die wirklichen Kenner des menschlichen Herzens Moralisten, ob sie nun Lichtenberg, Humboldt, Montaigne, La Bruyere oder Galiani hießen. Burger sagt zu "...diesen scharfsinnigen und unbestechlichen Botanikern der Moral", denen es vorbehalten war, heute "jene abstoßenden Figuren" zu bezeichnen, "welche die Moral nicht studieren, sondern predigen, jene selbstgerechten Wegweiser der Menschen, welche die vakant gewordenen Stellen des Klerus besetzen und nur selten ein Gewissen haben, es aber immer selber sind. Mit schöner Ironie nennt man sie heute 'Gutmenschen'. In der kürzlich abgelaufenen Moderne nannte man sie 'Intellektuelle', in Wahrheit schlecht säkularisierte Pfaffen und Propheten in der Toga des Kritikers."

Skeptiker, so Burger, waren in die fürchterlichen Massaker der Geschichte nie verwickelt, es waren stets die Gläubigen und Utopisten, die im Namen übermächtiger Ideale die Machtverhältnisse bestimmten, deren Namen, Formen und Inhalte natürlich je nach "Erfordernissen" wechselten. "Die kommenden Kriege wird man im Namen der Menschenrechte führen, und zwar auf allen Seiten. (...) Was sich durchhält über die Zeiten, ist die Figur des Sykophanten, des gläubigen Anzeigers, Aufzeigers und Verfolgers im Namen der Wahrheit als einer verpflichtenden Idee. Wenn die Geschichte, und namentlich die des 20. Jahrhunderts, etwas gelehrt hat, dann dies: Daß man jedem Menschen a priori alles zutrauen muß, das Höchste und das Niedrigste, das Erhabenste und das Gemeinste - das es aber klüger ist, mit dem Schlimmsten zu rechnen; man braucht ihm (dem Sykophanten) nur das entsprechende Ideal zu liefern und den Applaus seiner Gruppe..."

"Jenen, die sich ihrer sicher sind, den politisch korrekten 'Gutmenschen', den 'nach-dem-Rechten-Sehern', den moralisch Erhabenen und Spätverurteilern, den Erinnerungsathleten ohne Geschichte, den Helden ohne Risiko, mit einem Wort, den Sykophanten von heute..."

Mit solchen Leuten, die sich als Avantgardisten verstehen oder tarnen mögen, ist also zu rechnen und man muß sich vor ihnen schützen, das ist eine Empfehlung der Klugheit. Ernst Jünger sagte dazu einmal: "Man muß den Typus des Verfolgers im Auge behalten, nicht die Art der Parteiungen." So ist es ein Gebot der Moral und der Tugend, nicht zu ihnen zu gehören.

Solche Leute vermuten hinter jeder Tradition einen teuflischen Menschenfeind. Die aktivistische Postmoderne übertönt ihre Sinnleere mit nicht endenden Befreiungsakten. Ehrfurcht und Scham gelten als Untugenden in einer medienüberpeitschten Welt, hinter deren putziger Außenfassade mentale, emotionale und soziale Trümmerfelder zu besichtigen sind. Anstandsregeln, Bürgerpflichten, Partnertreue gelten nichts mehr. Und so regieren die hyperaktiven und narzistischen Typen die Szene, während alles Private öffentlich wird und die Menschen entleert. Dahinter lauern gewaltsame Welten und der praktische Nihilismus, die von den "idolatrischen Verdummungen" der Öffentlichkeitsintellektuellen mit ihrer Meinungsführerschaft gemanagt werden.

Deshalb kann Erich Dauenhauer, Wirtschaftsprofessor und Literat, auch sagen: "Der postmoderne Sozialstaat mit seinem überkomplexen Transfer- und Auffangnetz ist die gigantischste Beruhigungsdroge in der Menschheitsgeschichte. Er verspricht Lebenssicherheit auf Kosten der ökonomischen und sozialen Vernunft und sichert die Herrschaft der Mächtigen im Stile eines Julius Cäsar, der in Rom das Volk mit opulenten Straßenfesten und Geschenken (die er den versklavten Völkern raubte, J. S.), aushielt, damit er an der Macht bleiben konnte. Cäsar wurde bekanntlich ermordet und die altrömischen Götter verdrängt durch den (multikulturellen) Christengott, dessen himmlisches Trostprogramm sich der herkömmlichen Mythologie überlegen zeigte." Kommt nun der Islam, der die Herrschaft antritt?

Es geht um einen lebensgerechten Skeptizismus. Waren nicht alle großen Persönlichkeiten Skeptiker? Hielten sie sich nicht stets an die weisheitliche Lebensregel, Gewißheiten zu mißtrauen und jede Dogmatik anzuzweifeln? Wer Glaubenswahrheiten anzweifelt, ist jedoch kein Defätist oder Nihilist, sondern einer, dem der Gewißheitszweifel zur zweiten Natur geworden ist. Er weiß, wie unsicher, das heißt vorläufig und fehlerhaft, alles sogenannte sichere Wissen sein kann. Skepsis heißt so viel wie "Suchen", "Umhersehen" und "Prüfen". Natürlich kann es sicheres Wissen und begründete Erfahrungen geben, ja wir müssen sogar danach zu streben suchen. Aber Erkenntnisse und Erfahrungen sind Wandlungen unterworfen.

Dannenhauer faßt seine Überlegungen so zusammen: "Sinnestäuschungen, Forschung und gesellschaftlicher Wandel machen unmißverständlich klar: Für endliche Geister, die wir Menschen nun einmal sind, ist Gewißheit nur unter Vorbehalt zu haben. Skepsis ist lebensweisheitliche Antwort." In diesem Sinne kann auch von einem lebensdienlichen Avantgardismus gesprochen werden.

Weiter sagt Dauenhauer: "Haben einst Adel und Kirche von eigenem Weiterdenken befreit, so entlasten heute Medien und andere Vor-Denker den bürgerlichen Kopf. Man läßt für sich um die schwierigen Ecken denken, ehemals im Auftrag Gottes, aus dem man auch das Gottesgnadentum ableitete, heutzutage nach Maßgabe anderer höherer Auftraggeber, darunter die Verfassung, die bestimmte Vor-Redner und -Schreiber zum entlastenden Denken privilegiert."

Der "mündige" Bürger, alias der Massenmensch von heute, rennt hinter den jeweils ausgegebenen PC-Parolen hinterher. Sein Lebensstil ist antinational "zugvogelhaft polyglott" bei hohem Feigheitsgrad: "Das postmoderne, konzernistische Großbürgertum reagiert (im Zeitalter der Massendemokratien und Lohnsyndikate) mit Fusionen und globalen Ausweichschritten; dem sogenannten Mittelstand und dem Bildungsbürgertum stehen wirtschaftliche Sanktionen von vergleichbarer Wirksamkeit nicht zur Verfügung."

Konservative denken in langen Zeiträumen

Diese Phänomene des sozialen und kulturellen Zerfalls unseres Volkes, ja des gesamten Westens müssen zum Gegenstand tieferen Nachdenkens einer kulturkritischen Gegenbewegung werden. Das ist die Aufgabe der Avantgarden, die für die Zukunft nur konservativ sein können, da die Konservativen in langen Zeiträumen zu denken gewohnt sind. Den Kultur- und Verfallstheorien eines Spengler und Toynbee etc., überhaupt dem Aufgang und Niedergang von Völkern und Imperien muß auf den Grund gegangen werden. Unser Zeitalter ist offensichtlich ein zu Ende gehendes Zeitalter, wir stehen alle vor gewaltigen Umbrüchen, schon seit 100 Jahren und mehr, wie an den vielen Avantgarden wie Surrealismus, Futurismus, Expressionismus, Dadaismus und Kubismus abzulesen ist. Im Zeitalter der Postmoderne wirbeln die neuesten Moden kurzzeitig durcheinander und versinken wieder in den Orkus. Alle diese Moden fühlen sich dem Fortschritt verpflichtet; sie wollen das Alte abräumen und traditionelle Darstellungsformen zerstören, damit das Neue, das Künftige sich Bahn brechen kann. Dies steht im völligen Gegensatz zu früheren Zeiten, wo das bewahrende Nachzeichnen und Vollenden überkommener Kunstformen das Ziel allen ästhetischen Tuns war. Erinnerndes Wiederholen statt emanzipatorisches Vorwärtsschreiten prägte die Kunst. So verschwindet das Alte unter der Wucht der Avantgarden mit Realitätsausstiegen und "oppositionellen" Subjektivierungen in immer kürzeren Abständen und treibt die "technisch-industriell explodierenden Lebensformen" voran, so sagt Erich Dauenhauer.

Dabei gehört zum Zeitgeistinventar das staats- und sozialphilosophische Versprechen, dank der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung die Menschheit in eine friedlichere Welt überleiten zu können. Es dürfte sich hier allerdings um eine gewaltige Illusion handeln, welche die Niedertracht des Menschen völlig außer Acht läßt.

Die gleichen Mächte wie Staat, Kirche und Militär, die in früheren Zeiten Handeln, Denken und Wissenschaft preßten, frönen nun einer Ideologie der Entgrenzung. Dies mag allein den Global Players nützen und der Wissenschaft, der Kultur und den Völkern wird ein gewaltiger Schaden zugefügt. Dauenhauer sagt dazu: "Nationen können im Großnetz internationaler Verflechtungen ihre Identität beschädigen und versucht sein, die dabei entstehenden aggressiven Potenzen unkalkulierbar auszutoben. Ein politisches Theorem der komparativen Kostenvorteile ... setzt eine Weltgesellschaft, einen Weltstaat und einen Menschentypus voraus, der seine Identität in der Menschheit und nicht in einer bestimmten Nation und singulären Kultur fände." Aber die westlichen Entgrenzungsideologen stoßen bei allen anderen Kulturen auf scharfe und geharnischte Ablehnung, die unter anderem im explodierendem Fundamen-talismus zum Ausdruck kommt.

So kann Dauenhauer ausführen: "Multikulturelle Gesellschaften erscheinen keineswegs konfliktärmer, im Gegenteil: in ihnen ruht, wie Geschichte und Gegenwart in unzähligen Fällen vor Augen führen, nicht selten eine höhere Konfliktbereitschaft; und aus ihnen brechen auch real weit häufiger ethnische Kämpfe auf als in homogenen gesellschaftlichen Formationen. Selbst nach Jahrhunderten multikultureller Grenzüberschreitungen verflüchtigen sich Haß und Vorurteile nicht, sie scheinen sogar zu wachsen und von Zeit zu Zeit mit um so größerer Wucht zu 'ethnischen Säuberungen' zu führen. (...) Trotz intensiver Begegnungen bleiben Kulturen im Innersten letztlich einander fremd, und zwar deshalb, weil multikulturell angelegte Gesellschaften zu keiner 'neuen' Identität finden und die Enttäuschungserfahrungen eher zu verschärften Abgrenzungen als zur Toleranz führen (...) Unter der Wucht dieser weltweit blutigen Dauerrealität drohen moralische und ästhetische Fundamente zu bersten, auf denen unser abendländisches Humanitätsgebäude errichtet wurde. Den Verteidigern des positivistischen aufklärerischen Glaubenssatzes, wonach die Konfliktträchtigkeit einer Gesellschaft mit fortschreitender Multikulturalität an Boden verlöre, schlägt die schlechte Wirklichkeit jedes ihrer Argumente gnadenlos aus der Hand." Die Amerikanisierung der Erde sei ein Oberflächenereignis, zu dem die "literarische Minderheitsfraktion" sich bekennt, denn die Mehrheitsfraktion bedient ja avantgardistisch, wertvernichtend und in zivilisatorischer Raserei den Zeitgeist.

Dabei ist doch der Wille zum Wert die primäre Motivationskraft des Menschen. Günter Wand sprach in seinem letzten Interview davon, wie er noch im vergangenen Jahr in der Royal Albert Hall vor 7.000 Gästen Beethoven spielte und man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die Menschen sind also durchaus kulturfähig. Eine wahre Kultur ist sich auch ihres Wertes bewußt. Von uns kann man das wohl nicht mehr sagen, da die nihilistische Wertezerstörung weit fortgeschritten ist und kaum tilgbare Hypotheken für zukünftige Generationen geschaffen hat.

Ganz allgemein kann man heute davon sprechen, daß die Menschen der Spaßgesellschaft oberflächlich orientiert sind, entpatriotisiert, intellektualisiert, relativistisch, ohne Glauben an höhere (Kultur)Werte. Sinnkonzepte existieren nicht und nach letzten Dingen und Gründen wird nicht gesucht. Alles Tiefgründige und Schwere wird gemieden. Events, also Abenteuer- und Erlebnisakte haben Vorrang vor Dauer und Tiefe. Performance ersetzt Kompetenz und der "Abschied vom Prinzipiellen" (Odo Marquard) mündet in eine konturlose Pluralität mit einer Vielfalt von Sinnangeboten. Plakatives und Negatives haben Vorrang und dienen eher als Mittel der Desorientierung in einer Spätkultur, um vom Niedergang abzulenken. Ideelle Verbindlichkeiten werden suspekt, lebensweltliche und vor allem die politisch-wirtschaftlichen Identitäten werden brüchig und verlogen.

Aber kein Gemeinwesen und keine Institution können ohne trennscharfe Übereinstimmung mit Sinnstrukturen und dem Selbstbild auf Dauer existieren. Die Zerstörung gewachsener Unterschiede wird zum politischen Programm, ja selbst die Muttersprache wird anglifiziert und steht zur Disposition. Die Deutschen dürfen offenbar nicht zu sich selber kommen.

Höchste Zeit für eine lebensdienliche Wende

Unsere Spätneuzeit erweist sich ganz offensichtlich - in Parallele zur untergehenden Antike - als nicht mehr steuerbar, und die Frage bleibt, ob und inwieweit es gelingt, die auseinanderstrebenden Mächte auf ein neues Systembild einzustimmen. Globalisierend wird die halbe Welt umgemodelt und der Mensch aus der Nachbarschaft sinnhafter Strukturen weggelockt und zu oberflächlichem Treiben animiert. Die Erde, diese einzigartige kosmische Perle voller Schönheit, wird durch die Perfektion der Technik und Ökonomie (F. G. Jünger) vernutzt und verhäßlicht.

Man muß aber nicht so pessimistisch sein wie Oswald Spengler, der in seiner Technikschrift schrieb: "Die Zeit läßt sich nicht anhalten; es gibt keine weise Umkehr, keinen klugen Verzicht. Nur Träumer glauben an Auswege. Opportunismus ist Feigheit (...) Auf dem verlorenen Posten ausharren, ohne Hoffnung, ohne Rettung, ist Pflicht. Ausharren wie jener römische Soldat, dessen Gebeine man vor einem Tor in Pompeji gefunden hat, der starb, weil man beim Ausbruch des Vesuv vergessen hatte, ihn abzulösen." Ein solcher Pessimismus ist aus der verzweifelten Situation nach dem Ersten Weltkrieg zu verstehen, in der in immer kürzeren Abständen Normverletzungen und Realitätsausstiege erfolgten. Nunmehr ist die Zeit für konservative Avantgarden gekommen, die eine lebensdienliche Wende einleiten müssen und die Werte schaffen, die sich zu erhalten lohnen. 


 
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