© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Leiden an der Alltäglichkeit
Patricia Chiantera-Stutte über die linksfaschistische Opposition gegen das Regime Mussolini
Peter Boßdorf

Die Liebe zum Detail alleine leistet nicht notwendigerweise einen Beitrag zu einer differenzierteren Betrachtung der Zeitgeschichte. Zahlreiche vom Pathos der Fassungslosigkeit getragene Intellektuellenbiographien, die Nachkriegskoryphäen im Lichte ihrer Kriegs- und Vorkriegskarrieren zu demontieren trachten, belegen vielmehr in jüngster Zeit, daß die materialreiche Vereinfachung Mode und Methode geworden ist.

Patricia Chiantera-Stutte kann sich diesem Brauch aus zwei guten Gründen entziehen. Zum einen hat sie über ein italienisches Thema geforscht, an dem man sich hierzulande unbeteiligt fühlen mag. Zum anderen wählt sie einen soziologischen Ansatz, der sie der bloßen Nacherzählung von Ideengeschichte entheben soll. Sie skizziert das Denken von Autoren, die mehr oder weniger dem futuristischen Kontext entstammen und im Faschismus zunächst eine glaubwürdige und in jedem Fall der kommunistischen Alternative vorzuziehende Option im Kampf gegen die bürgerliche Mentalität sahen, sich diesem aber im Laufe der Zwanziger Jahre, als Mussolini unbeschadet seiner "totalitären" Wende 1925 den Kompromiß mit den traditionellen Eliten suchte, zunehmend entfremdeten. Mino Maccari, Mario Carli, Emilio Settimelli, Curzio Suckert alias Malaparte und - als Sonderfall - Julius Evola stehen explizit im Zentrum der Betrachtung, Roberto Farinacci, an dem sich das Phänomen der "Intransingenti" aufgrund seiner politischen Relevanz viel einleuchtender festmachen ließe, geistert durch das Buch, ohne daß man mehr als nur das Nötigste über ihn erführe.

Die Autorin analysiert Denkstrukturen, porträtiert ihre Protagonisten aber nicht wirklich. Dies kann man ihr aufgrund ihrer interdisziplinären Herangehensweise zwar nicht vorwerfen, erschwert aber den Zugang zum Verständnis von Literaturen, denen das, was heute akzidentiell erscheinen mag, durchaus wesentlich war. Insbesondere Carli, Maccari und Settimelli bleiben in ihrer Darstellung sonderbar blaß. Suckert/ Malaparte hingegen nimmt sie zu unkritisch beim Wort. Es mag ja zutreffend sein, daß er sich in seiner Kritik an Marinetti zu einer Kunst bekannt hat, die (auch und gerade finanziell) unabhängig bleibt. Ein "grundlegendes Prinzip", wie Chiantera-Stutte behauptet, ist dies für ihn aber nicht gewesen. Unter dem Minister für Volksbildung Alessandro Pavolini gehörte er vielmehr zu den "grandi canguri", die sich ihr Wohlwollen für das Regime gut bezahlen ließen. In ihren Reflexionen über Julius Evola legt sie Wert auf die Feststellung, daß bei ihm nicht bloß von einer gelegentlichen dadaistischen Phase gesprochen werden kann, Anleihen aus dieser - und hier insbesondere die Inspiration durch Max Stirner - vielmehr durchgängig virulent bleiben: Die Intellektuellen sind nicht, wie sich das seit der Dreyfus-Affäre so hübsch eingebürgert hat, Anwälte des Universellen, sondern Wissende, die eigentlichen Individuen also, während die anderen bloß die Massen darstellen, die durch Mythen mobilisiert werden.

"Neue Faschisten", die "fiancheggiatori" sichern sich nach der Machteroberung zügig relevante Positionen. Ein Liberalkonservatismus Gentilianischer Prägung wird als der eigentliche Faschismus camoufliert. Die Faustschläge in den Magen der Bourgeoisie, von denen bei Mussolini später wieder die Rede ist, werden bis zum bitteren Ende, bis am Gardasee das faschistische Utopia konstruiert wird, nur rhetorisch gesetzt. Die ursprünglichen Faschisten, für die das Bürgertum der wahre Feind ist und bleibt, sehen sich an den Rand gedrängt. Ihr Einfluß ist begrenzt, aber sie werden zu keiner Zeit ganz ausgeschaltet, da eine irreparable Entscheidung gegen sie Mussolini eines unberechenbaren Drohpotentials gegen die liberalen Eliten unnötig berauben würde.

Die Intellektuellen, derer sich Chiantera-Stutte annimmt, verzweifeln an der Alltäglichkeit des Faschismus nicht, weil sie eine andere präferieren würden, sondern weil sie gar keine Alltäglichkeit tolerieren wollen. Sie definieren und kritisieren die Bourgeoisie nicht ökonomisch, sondern begreifen sie als eine moralische Kategorie, als Träger einer veralteten, ungefährlichen und langweiligen Lebensauffassung, die sie verachten und die es daher zu überwinden gelte. Die Autorin betrachtet die radikalen Rechtsintellektuellen folglich nicht ohne Grund als "größte Feinde" der Konservativen, und sieht ein Fortleben dieser Einstellung zurecht als ein Movens der sogenannten Neuen Rechten, die sich, ohne dort auf allzu große Gegenliebe zu stoßen, eher zu der klassischen oder der lebensreformerischen Linken hingezogen fühlt als zu neoliberalen Populismen. So sehr einzelne Autoren auch darauf insistieren mochten, einen "reinen Faschismus" gegen jenen zu verteidigen, den man in Mussolini personifiziert sah, und so kompromißlos sie sich daher weigerten, ihre Rolle als Intellektuelle darauf beschränkt zu sehen, für das aktuelle Regime zu werben, so konsequent blieben sie eine Randerscheinung in der zeitgenössischen Kultur und Publizistik. Patricia Chiantera-Stutte zeichnet zwar ihre Motive plausibel nach, findet dabei aber nicht zu ihrem soziologischen Ausgangspunkt zurück. Die innerfaschistische Dissidenz erscheint bei ihr als eine Kopfgeburt, als ein individuelles und nicht als ein soziales Phänomen.

Giuseppe Parlato hingegen identifiziert die faschistische Gewerkschaftsbewegung als einen organisatorischen Kern der Kritik an der Verbürgerlichung des Regimes. Die Stimmen, die sich aus diesem "Laboratorium der faschistischen Linken" heraus zu Wort melden, schlagen dabei allerdings weniger operettenhafte Töne an. Ihrer Auffassung nach droht die Bewegung schlicht ihre historische Mission zu verfehlen: die Vollendung des Risorgimentos durch die Mobilisierung und Integration der Massen, die bislang ausgeschlossen waren. Die Vorstellung, die Klassengegensätze ließen sich im wesentlichen in einer Harmonie im Dienste an der Nation auflösen, wird nicht mitgetragen. In der sozialpolitischen Praxis geht es darum, eine materielle Besserstellung der Massen durchzusetzen und eine Gleichschaltung ihrer Interessenvertretung abzuwenden. Der linke Faschismus gibt dem Regime Mussolinis so zwar eine revolutionäre und populistische Perspektive und Legitimation, ist diesem aber nicht exklusiv verbunden. Manche seiner Protagonisten setzen ihre Arbeit unter antifaschistischem und kommunistischem Vorzeichen fort, ohne daß an der Kontinuität ihrer zentralen Überzeugungen gezweifelt werden könnte. Parlato zeichnet nach, wie ausgerechnet "linke" Faschisten, die eigentlich dem nationalsozialistischen Deutschland mit Argwohn begegneten, zu Befürwortern des Krieges wurden, den sie als Kampf für soziale Gerechtigkeit auf internationaler Ebene interpretierten. Die Absetzung Mussolinis am 25. Juli 1943 erscheint ihnen als Konsequenz seiner Konzessionen an das Bürgertum. Der Lernerfolg war jedoch, so Parlato, begrenzt: Im Mikrokosmos der Repubblica Sociale Italiana (RSI) blieben die Faschisten gewerkschaftlicher Herkunft und Orientierung eine Minorität. Pavolini teilte zwar auf eine besonders militante Weise ihren antiliberalen Affekt, setzte aber auf eine Konzentration der Macht in der neuen faschistischen Partei - und nicht in Gewerkschaften.

Der parteipolitisch organisierte Neofaschismus nach 1945, ihm ist in der Studie ein konzises Schlußkapitel gewidmet, knüpfte weniger an das Erbe der RSI an, als daß er die Spannbreite des etablierten Regimes im kleinen reproduzierte. Ein jakobinischer, "linker" Faschismus ist hier ebenso anzutreffen wie ein esoterischer Integralismus oder das Projekt einer "großen Rechten". Letztere ist die Vision, die heutzutage offenbar Fini vorschwebt. Er fällt damit weniger aus dem neofaschistischen Rahmen, als seine Anhänger wie seine Gegner auf der Rechten unterstellen.

 

Fototext: Truppenparade 1938 in Rom: Mare-nostro-Imperialismus statt Kampf gegen die Bourgeoisie

Patricia Chiantera-Stutte: Von der Avantgarde zum Traditionalismus. Die radikalen Futuristen im italisnischen Faschismus von 1919 bis 1931. Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York 2002, 277 Seiten, 35,90 Euro

Guiseppe Parlato: La sinistra fascista. Storia di un progetto mancato. Il Mulino Verlag, Bologna 2000, 404 Seiten, 23,24 Euro


 
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