© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
"Wir haben uns nicht besonders gemocht"
Die polnische Streikbewegung als Anfang vom Ende des SED-Staates
Doris Neujahr

Bis heute ist es eine beliebte Übung, das deutsch-polnische Verhältnis der letzten hundert Jahre als eine einzige Abfolge gegenseitigen Unrechts, Hasses und Gewalt zu charakterisieren. Noch der deutsch-polnische Vertrag von 1991 erscheint da als die Sanktionierung von Erpressung, während polnische Nationalisten hinter dem Beitrittsgesuch ihres Landes zur EU einen perfiden deutschen Plan vermuten, verlorenes Territorium auf kaltem Wege wieder zu erringen. Tatsächlich sind die deutsch-polnischen Beziehungen inzwischen viel entspannter. Und auch die Zeitgeschichte enthält ein Ereignis, das geeignet ist, emotionale Gemeinsamkeit zu stiften: Die Berliner Mauer fiel 1989 auch deshalb, weil es seit den Danziger Streiks 1980/81 und der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc in ihren Fundamenten rumorte.

Damals begann, nach dem Jahrzehnt der Friedhofsruhe, das sich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wieder über den Ostblock gesenkt hatte, eine oppositionelle Massenbewegung das kommunistische Machtmonopol von innen heraus zu erschüttern. Auch nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 konnte sie nie völlig unterdrückt werden.

Für Deutschland waren die Vorgänge in Polen von besonderer Bedeutung, weil die DDR ihre staatliche Existenz nicht aus sich selber begründen konnte, sondern nur als Teil des Sowjetimperiums. Die polnische Opposition, indem sie an dessen Grundfesten rührte, stellte also auch den Bestand der DDR samt Mauer und SED-Herrschaft in Frage.

Tatsächlich hat Erich Honecker die Streiks in Polen sofort als eigene Bedrohung wahrgenommen und befürchtet, Polen würde für die Bundesrepublik zum "Einfalltor" in die DDR werden. Die SED-Führung war unsicher, wie sie über die Streiks berichten sollte, denn in ihrem monolithischen Weltbild kamen Streiks nur als Ausdruck antagonistischer Klassenkonflikte vor, welche es im Kapitalismus, nicht aber im Sozialismus gab. Mit Stalins Vokabular rang Honecker, dessen Stern als weitsichtiger Staatsmann im Westen gerade aufging, um ein Verständnis der aktuellen Vorgänge: "Wie kann man ernsthaft den Standpunkt vertreten, die Streiks seien Ausdruck des authentischen Interesses der Arbeiterklasse? Das ist ein Abgehen vom Marxismus-Leninismus. Nach Marx ,Engels, Lenin wurde der Sozialismus mit der Arbeiterbewegung vereint. Also ist die Partei die Vorhut der Arbeiterklasse, bringt ihre Interessen zum Ausdruck. Die Streiks aber richten sich gegen den Sozialismus."

Zunächst sprach die DDR-Presse von "zeitweiligen Arbeitsunterbrechungen". Statt selber die Vorgänge zu kommentieren, wurden die Erklärungen anderer kommunistischer Parteien in einer Weise zusammengestellt und publiziert, "daß unsere Menschen begriffen, worum es in Polen ging". (Honecker)

Auf Dauer mußte dieses Schweigen als Zeichen von Ratlosigkeit wirken. 130.000 Demonstranten in den polnischen Ostseestädten und eine Million in ganz Polen ließen sich nicht mehr ignorieren. Zu den ökonomischen Forderungen kamen schnell politische: Verlangt wurde die Zulassung freier Gewerkschaften, die Abschaffung der Zensur und der Privilegien der Nomenklatura. Es folgten Korruptionsenthüllungen: Spitzen- und Provinzfunktionäre wurden ihrer Posten enthoben. Polnische Diplomaten legten Kränze in Katyn nieder und brachen damit ein Geschichtstabu. Am 31. August 1980 wurde auf der Leninwerft das "Danziger Abkommen" unterzeichnet, das die Zulassung von "Solidarnosc" vorsah. Alles das konnte in der DDR über das Westfernsehen mitverfolgt werden.

Die DDR-Presse brachte nun den BRD-"Revanchismus" ins Spiel und ermahnte die Polen, daß nur ein funktionierender Warschauer Pakt ihren Territorialbestand sichere. Damit wurde die komplizierte Dialektik der deutsch-polnischen Beziehungen wieder sichtbar: Die offene Grenzfrage diente den polnischen Kommunisten zur Legitimation ihrer Macht und war ein Argument, die deutsche Teilung als Grundlage der europäischen Sicherheit darzustellen.

Zeitgleich fand im Seegebiet vor der Ostseeküste das "Manöver Waffenbrüderschaft" statt, ein Seelandungsmanöver, das die Macht möglicher Interventionsstreitkräfte demonstrierte. Der DDR-Verteidigungsminister Hoffmann verlangte eine "frontnähere" Ausbildung der Nationalen Volksarmee (NVA), und Honecker erklärte dem polnischen Außenminister: "Wir sind nicht für Blutvergießen. Das ist das letzte Mittel. Aber auch dieses letzte Mittel muß angewandt werden, wenn die Arbeiter- und Bauernmacht verteidigt werden muß. Das sind unsere Erfahrungen aus dem Jahre 1953, das zeigen die Ereignisse in Ungarn 1956 und 1968 in der Tschechoslowakei." Er drängte den sowjetischen Parteichef Breschnew zu "kollektiven Hilfsmaßnahmen für die polnischen Freunde bei der Überwindung der Krise", was nichts anderes hieß als Interventionsmaßnahmen. Es zeichnete sich aber ab, daß eine militärische Intervention ungleich schwieriger verlaufen würde als 1968 der Einmarsch in die CSSR. 60 polnische Generäle und 200 weitere Offiziere in Polen kündigten gegenüber der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) ihren Widerstand an, falls die NVA in Polen einrücken würde.

Dies und die massiven Warnungen des Westens bewog die Ostblock-Führung, die Eindämmung der polnischen Revolte auf andere Weise zu versuchen. Am 24. Oktober 1980 teilte Honecker dem polnischen Parteichef Stanislaw Kania die Einstellung des freien Reiseverkehrs zwischen beiden Ländern mit.

Vom 17. bis zum 22. September 1980 wurde die S-Bahn in Berlin-West bestreikt. Sie wurde, entsprechend einer Vier-Mächte-Regelung, von der DDR-Reichsbahn betrieben, die Angestellten kamen vor allem aus West-Berlin. Die DDR-Gewerkschaft machte keinerlei Anstalten, sich der Probleme ihrer West-Berliner Kollegen anzunehmen. So kam es zu spontanen Streiks und Betriebsbesetzungen. Natürlich stellt sich die Frage, ob nicht von interessierter Seite versucht wurde, den polnischen Streikfunken via Berlin (West) in die DDR überspringen zu lassen. Jedenfalls reagierte die DDR kompromißlos. Honecker erklärte danach, "man wollte von Westberlin aus 'polnisch' mit uns reden. Das sogenannte Bahnkomitee wollte Verhandlungen mit der veranwortlichen Bahnverwaltung erzwingen. Aber wir haben dieses 'polnisch' nicht verstanden."

Von DDR-Intellektuellen ist zu den polnischen Vorgängen nichts Berichtenswertes übermittelt, obwohl - und wieder bietet Honecker sich als Kronzeuge an - die politische Bewegung in Polen auch sie selbst betraf. Honecker beklagte die "faktisch ungehinderten und geförderten Reisen in kapitalistische Länder und 'Studienaufenthalte'", die der polnische Staat seinen Intellektuellen gewährte. Genau davon träumten auch die DDR-Bürger.

In ihrer Ignoranz befanden sie sich in Übereinstimmung mit dem Linksmilieu in Westdeutschland. Die polnische Allianz aus katholischer Kirche, Arbeiterschaft und Intellektuellen erschien ihnen als etwas Archaisches. Die Möglichkeit revolutionärer Veränderungen, wie sie sich in Polen abzeichnete, war in ihrem Weltbild so wenig vorgesehen wie in dem der SED-Führung.

Und die sogenannten "kleinen Leute" in der DDR? Sie sahen die Ereigisse jenseits der Oder vor allem durch die Brille ihrer Alltagssorgen. Die Versorgungsmängel, mit denen sie zu kämpfen hatten, wurden durch die Warenabkäufe durch polnische Bürger zusätzlich verschärft. Die Centrum-Warenhäuser erlebten nach der Grenzschließung einen Umsatzrückgang von durchschnittlich 20 Prozent, in Grenznähe noch wesentlich mehr. Das wurde als Erfolg verbucht. Diese Reaktion zeigt das Strukturproblem der Beziehungen zwischen Polen und der DDR, die sich unter den Bedingungen von Planwirtschaft und Ein-Parteien-Herrschaft nie unverfälscht und frei entwickeln konnten. Vielmehr erlebten alte, nationale Feindbilder eine Renaissance. Die Einschränkung der Reisefreiheit, die erst 1972 für Polen und die Tschechoslowakei eingeführt worden war, wurde einerseits bedauert, doch überwog die Erleichterung über das wieder erweiterte Warenangebot.

Latent blieb die Angst vor der Verwicklung in eine militärische Intervention. Als am 13. Dezember 1981 General Jaruselzki das Kriegsrecht verkündete und zur innerpolnischen Angelegenheit erklärte, wurden die DDR-Bürger von dieser Angst erlöst.

Ein Zeitzeuge gibt zu Protokoll: "Ich bin am 3. November 1981 zur NVA eingezogen worden. Ausgerechnet nach Frankfurt/ Oder, der Grenzstadt. Jeden von uns beschäftigte die Frage, ob wir wohl in Polen einrücken würden. Der 13. Dezember 1981 war ein Sonntag. Wir saßen um die Mittagszeit im Kino, als mitten im Film das Licht anging und ein Offizier die Bühne betrat. Wir wurden alle blaß. Er erklärte uns, was passiert war, und daß die polnischen Genossen die Probleme unter sich klären würden. Wir hingen danach am Fernseher, hörten auch Westradio, was verboten war. Kanzler Schmidt war gerade in Güstrow, zusammen mit Honecker. Im Hinterkopf hatte man ja immer, daß für uns vielleicht ein bißchen Reisefreiheit herauskommt. Daß es den Polen ebenfalls darum ging, es sogar eine Interessenkongruenz gab, diesen Gedanken sprach niemand aus. Ich glaube, nur ganz wenige sind überhaupt darauf gekommen. Man hatte wenig Verständnis für 'Solidarnosc'. Freiheit, Demokratie, wie die Polen sie meinten, lagen damals jenseits des Horizonts. Den zu überschreiten hatte man Angst. Im Rückblick hätte man seine Landsleute und Altergenossen gerne mutiger, klüger, edler gehabt."

Der Publizist Adam Krzeminski sagte Ende 1990 zur polnischen Sicht auf die DDR: "Wir haben uns nicht besonders gemocht, die Polen und die DDR-Deutschen. Wir Polen durften mehr, haben es auch erzwungen, Ihr DDR-Deutschen hattet mehr, habt es auch zum Teil erarbeitet, zum Teil bekommen von denen, die die 'menschlichen Erleichterungen' mit 'eingefädeltem' Geld erreichen wollten." Als Ausnahme ließ er die Monate vom Sommer 1989 bis zum Mauerfall gelten, die Zeit der Massenflucht, die viele DDR-Bürger auch über Polen führte. Danach überwog der Ärger über die "nationale Erweckung" im Nachbarland, "die die Minderwertigkeitskomplexe der braven DDR-Deutschen gegenüber ihren erfolgreichen West-Onkels an uns im Osten abladen ließ".

Zwölf Jahre später sollte der Blick frei dafür sein, daß ein wiedervereinigtes Deutschland ohne ein freies Polen nicht zu haben war, und umgekehrt. In diesem Wechselspiel wurde den Polen zweifellos der größere Anteil an Wagemut und Risiko abverlangt. Wer das nüchtern anerkennt, wird auch die deutsch-polnischen Verbitterungen, die aus der Vergangenheit herrühren, allmählich hinter sich lassen können.


 
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