© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002


Neue Technologien: Geschlechterdefinition
Technische Mittel verändern moralisches Urteil
Angelika Willig

Wie sehr die Technik unser Leben bestimmt, macht sich keiner mehr klar. Vom Radiowecker über Wasserkocher, Bus oder Auto, Heizthermostat bis zu Computer und Fernsehen leitet uns die Technik. Ohne sie müßte ein Großteil der heutigen Bevölkerung sogar verhungern. Trotzdem wird nach der Technik wenig gefragt. Man meint, sich der Dinge bedienen zu können, ohne selbst davon beeinflußt zu werden. Besonders bei moralischen Fragen wird stets so argumentiert, als ob der Mensch, der heute eine Entscheidung zu fällen hat, der gleiche wäre wie vor hundert oder vor tausend Jahren. Man beruft sich auf Kant oder auf die Zehn Gebote. Und von dieser Warte aus erscheinen viele Verhaltensweisen von heute komplett unmoralisch, um nicht zu sagen "entartet". Man kritisiert die öffentliche Anerkennung von Homosexuellen und ihre zunehmende Gleichstellung mit Ehepaaren. Ebenso wird das Ansinnen Homosexueller, Kinder zu adoptieren, scharf zurückgewiesen. Wären die Menschen nur eine Tierart unter anderen, so würde ein solches Verhalten als nicht artgemäß von der Natur schnell mit Aussterben bestraft. Beim Menschen sieht es jedoch anders aus. Hier ist das Sexualverhalten schon heute nicht mehr unbedingt an die Fortpflanzung geknüpft. Wie heterosexuelle Paare Verhütungsmittel nutzen, so lassen sich per künstlicher Befruchtung immer mehr Homosexuelle zu Kindern verhelfen. Noch ist das ein bißchen "gemogelt", weil die Lesben männlichen Samen brauchen, die Schwulen sogar eine Leihmutter. Doch wer die Entwicklung verfolgt, wird nicht bezweifeln, daß es früher oder später "echte" Nachkommen gleichgeschlechtlicher Paare geben wird. Und was dann? Was ist dann "artgemäß", was biologisch sinnvoll? Wieso sollte unter diesen Umständen ein kinderloses Yuppie-Ehepaar, das Steuern sparen will, gegenüber einem Homo-Paar mit starkem Kinderwunsch und Bereitschaft zur Erziehung bevorzugt werden?

Keiner wird wohl noch den Menschen auf ein ewiges Wesen festlegen wollen. Doch für viele ist es schwer zu verstehen, wieso heute richtig sein kann, was gestern falsch war. Sie sehen einen moralischen Verfall, wo nur technischer Fortschritt ist. "Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt", schreibt der Philosoph Jean-Paul Sartre. Technische Probleme lassen sich nur technisch lösen und niemals moralisch. Nicht durch Appelle, sondern durch Erfindungen. Denn woran sollte man beim Menschen appellieren, wenn nicht an seine Phantasie und seine Erfindungskraft?

Längst war der Existentialismus aus der Mode geraten. Nun gewinnt er neue Aktualität. Aufgabe des Menschen sei es, so Sartre, "sich selbst zu entwerfen". Das fängt heute beim Geschlecht an und wo es einmal endet, ist nicht abzusehen.


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