© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/02 06. September 2002

 
Die Berufspolitiker werden mächtiger
Frankreich: Im "Kampf gegen Rechts" wird das Wahlrecht geändert / Aber Stärkung der Regionen möglich
Charles Brant

Manche repräsentative Demokratien verspüren in regelmäßigen Abständen das dringen-de Bedürfnis, ihr Wahlrecht zu überholen. Der französische Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin ist versucht, diesem Impuls nachzugeben.

Die Überraschung war geheuchelt. Auch wenn das Thema in Raffarins Regierungserklärung nirgends vorkommt, hatten die politischen Beobachter damit gerechnet, daß er sich früher oder später einer Reform des Wahlrechtes annehmen würde. Mitten in der Sommerpause richtete Innenminister Nicholas Sarkozy ein sechsseitiges Memorandum an Raffarin, dem verschiedene Vorschläge zur Reform des Wahlrechtes noch vor den Regional-, Kantons-, Senatoren- und EU-Wahlen in zwei Jahren angefügt waren. Die Stoßrichtung seiner Ideen liegt nach eigener Auskunft in einer Verstärkung des "mehrheitlichen Zusammenhalts". Das übersetzt man unschwer als Bemühen, die Hegemonie der erst in diesem Jahr formierten bürgerlichen Präsidentenpartei UMP, auf die sich Raffarins Kabinett stützt, zu zementieren.

Gewiß ist Sarkozy das Werkzeug einer Strategie, die Jacques Chirac höchstpersönlich ausgeheckt hat. Der neogaullistische Präsident ist nicht nur auf den Erhalt seiner Vormachtstellung erpicht, sondern er möchte sicherstellen, daß eine Erniedrigung, wie er sie bei den Präsidentschaftswahlen im Duell gegen Front National-Chef Jean-Marie Le Pen erlitt, zukünftig unmöglich wird. Sein Wiedereinzug in den Elyséepalast reichte nicht aus, das katastrophale Ergebnis vergessen zu machen, das Chirac und sein sozialistischer Kontrahent Lionel Jospin im ersten Wahlgang im Mai erreichten. Zusammen verloren die beiden Kandidaten um die sechs Millionen Wähler, die sich entweder für eine Wahlenthaltung oder aber für eine Proteststimme entschieden.

Wenn man Presseberichten glauben darf, hat Sarkozy seinem Chef sehr präzise Vorschläge unterbreitet. Im Namen des Kampfes gegen "die rechtsextreme Gefahr" soll das System der politischen Repräsentation drastischen Veränderungen unterzogen werden, die geeignet sind, seine Bipolarisierung voranzutreiben. Das französische Gesetz untersagt jegliche Änderung des Wahlgesetzes im Jahr vor einer Wahl. Da die nächsten Wahlen 2004 stattfinden werden, muß die anvisierte Reform bis zum Ende dieses Jahres abgeschlossen sein. Das Parlament wird sich im Herbst damit befassen.

Bezüglich der Kommunalwahlen soll die "Streuung" von Stimmen verhindert und der "mehrheitliche Zusammenhalt" der Regionalparlamente gefördert werden. Um dies zu erreichen, will man die Sperrklausel von fünf auf sieben Prozent erhöhen. Ferner soll der Wahlsieger mit einem noch höheren Bonus an Sitzen belohnt werden. Im März 1998 zog der Rechtsliberale Charles Millon - damals noch Parteifreund von Raffarin - den Zorn der politischen Klasse auf sich, als er mit Hilfe von Front National-Stimmen zum Präsidenten der Region Rhône-Alpes gewählt wurde. Derlei "widernatürliche Allianzen" sollen mit dem neuen Wahlrecht verhütet werden.

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung sollen künftig in jedem Wahlkreis nur noch zwei Kandidaten in die Stichwahl kommen. Bislang ziehen alle Kandidaten in die zweite Runde ein, die in der ersten Runde mindestens 12,5 Prozent der Stimmen erhalten haben. Die Reform soll eine Wiederholung der Ereignisse von 1997 verhindern, als es in 76 Parlamentswahlkreisen zu "Dreieckswahlen" kam, in denen die bürgerliche Rechte nicht nur gegen linke Kandidaten, sondern auch gegen den Front National antreten mußte - und verlor.

Eine wichtige Neuerung ist bezüglich der Europawahlen 2004 geplant: Künftig sollen die Parlamentarier nicht mehr auf nationaler Ebene , sondern in den Regionen gewählt werden. Das Verhältniswahlrecht wird beibehalten.

Für den Front National (FN) ergibt sich daraus insofern ein Nachteil, als sein öffentliches Profil ausschließlich auf der Ausstrahlung seines Chefs Jean-Marie Le Pen beruht. Die neue Regelung erfordert in allen 22 Regionen Spitzenkandidaten mit starker Medienpräsenz, was sich zum Nachteil landesweit antretender kleinerer Formationen auswirken muß. Andererseits könnten Regionalisten und Autonomisten im Elsaß, der Bretagne, Savoyen und Korsika durchaus für Überraschungen sorgen.

Weiterhin ist vorgesehen, die Amtszeit der Senatoren von neun auf sechs Jahre zu verkürzen und die seit 1976 unveränderte Verteilung der Sitze zwischen den Départements neu zu regeln. Daß dies ein heikles Thema ist, weiß Raffarin, der fünf Jahre lang dem Senat angehörte, nur zu gut.

Hinsichtlich der Kantonalwahlen stehen einschneidende Veränderungen an. Zwar spielt Sarkozy dies herunter, indem er sagt, nichts weiteres im Sinn zu haben als eine "Anpassung" an die Ergebnisse der Volkszählung von 1999. Außerdem solle die eigentliche Umstrukturierung der Kantone und der Wahlkreise erst bei den nächsten Parlamentswahlen in fünf Jahren in Kraft treten. Die Überrepräsentation der Landwirte in der Nationalversammlung mag derzeit kein Modethema sein, mit ihm befassen muß man sich dennoch: In 104 Wahlkreisen stellt die bäuerliche Schicht mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten; in Paris kommt auf 13.205 Wahlberechtigte ein einziger Stadtrat, während Kommunen mit weniger als 500 Einwohnern einen Stadtrat pro 23 Wahlberechtigte haben.

Das Schreckgespenst der Rechten, das schon vor und während der Präsidentschaftswahlen so wirkungsvoll heraufbeschworen wurde, wird auch diesmal benutzt, um eine Veränderung der Spielregeln zu rechtfertigen. Dem "lästigen" Populismus soll ebenso Einhalt geboten werden wie dem Wahlverhalten der Protestwähler. Neben der beabsichtigten Schwächung des FN geht es darum, ein Werkzeug zur "Normalisierung" der politischen Szene zu schaffen.

Im Klartext heißt das, das Spektrum, das dem Wähler angeboten wird, zu verringern. Diese Bipolarisierung wird den Kommunisten (PCF), Trotzkisten und Grünen nicht weniger schaden als dem FN. Sozialistische Aufrufe zu einer "Neugründung der Linken" haben lautstarke Proteste und Vorbehalte hervorgerufen. Innerhalb der PCF regt sich viel Widerstand gegen die Aussicht, den Graben zu überbrücken, der sie seit dem Kongreß von Tours (1920) von dem "alten Haus" der Sozialisten trennt. Alain Krivine von der Revolutionären Kommunistischen Liga sträubt sich ebenfalls mit Händen und Füßen dagegen, und auch die Grünen befürchten, unter die Räder zu geraten. Schon heute ist über ein Drittel der abgegebenen Stimmen nicht im Parlament repräsentiert.

Die einzigen Nutznießer der Bipolarisierung wären die beiden mehrheitsfähigen Parteien: die aus Neogaullisten, Liberalen und Christdemokraten gebildete UMP sowie die im Umbruch begriffenen Sozialisten. Dabei steht keineswegs fest, ob es diesen Parteien gelingen wird, ihre unterschiedlichen Richtungen unter einen Hut zu bringen und die Phase der Neuorientierung zu überwinden. Sicher ist nur: Die Macht der Berufspolitiker, die sich jeweils dem Präsidenten oder seinem Herausforderer andienen - wird sich verstärken.

Die politische Debatte droht auf ihre einfachste Form reduziert zu werden: den Kampf um die Macht. Die "Normalisierung" wird wenig Raum lassen für Volkssouveränität oder Pluralismus. Statt dessen wird sie die Verwerfung zwischen Regierten und Regierenden noch deutlicher machen. Ob sie sich als wirksames Mittel gegen Politikverdrossenheit und Wahlenthaltung erweist, ist erst recht fraglich. Anstatt die Krise der Demokratie zu lösen, droht die Wahlrechtsveränderung sie zu verschlimmern.


 
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