© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/02 06. September 2002

 
Die Kunst des Gedenkens
11. September 2001: Ein zynischer Blick auf die kulturelle Ausbeute des "Jahres danach"
Silke Lührmann

Der 11. September 2001 war ein pechschwarzer Tag für die Menschlichkeit und wohl auch für die Menschheit, zumindest für jenen Bruchteil der Menschheit, den man in derlei Platitüden mitzuzählen pflegt. Für Dichter und solche, die sich dafür halten, mag die Schutthalde, wo das World Trade Center stand, zur Goldgrube werden. In der Sprachlosigkeit, in den Schweigeminuten, während noch tagelang Textfetzen auf New York herabregneten, war das unbeholfenste Wort ein Lebenszeichen, ein Geschenk. Es gab gar nichts zu sagen und so unerträglich viel. Die letzten E-Mails und Telefongespräche der Todgeweihten, ihre Namen und Lebensdaten, die Flugnummern der entführten Maschinen frästen sich ins öffentliche Kurzzeitgedächtnis ein. So viel Sterblichkeit schrie nach Verewigung.

Den haßverzerrten Fratzen religiöser Fanatiker und machtgeiler Politiker gelte es die Vision einer lebenswerteren Welt zu entgegnen, forderte Arundhati Roy im JF-Interview, als die Rache an Afghanistan gerade begonnen hatte. "Die klügste Antwort auf das Grauen des 11. September wäre der Versuch, sich die Schönheit neu vorzustellen." (JF 42/01). Man muß nicht Ethik mit Ästhetik verwechseln, um wie die Inderin zu hoffen, daß Kultur als Grenzzone der Gestalt und Gestaltung von Wirklichkeit jene Freiheit bietet, damit "wir nicht zwischen der Häßlichkeit des Osama bin Laden und der Häßlichkeit des George W. Bush zu wählen brauchen. Die ganze Pracht der menschlichen Zivilisation - unsere Musik, unsere Kunst, unsere Literatur - liegt zwischen diesen Extremen."

Sprechen heißt Anspruch auf die stumme Dingwelt erheben, aber auch Trost erflehen; das lateinische orare meint "reden" und "beten" zugleich. Nicht nur Islamexperten, auch Literaten waren als Sinnstifter gefragt: Roy, die den "Gott der kleinen Dinge" in ihrem Booker-gekrönten Roman als god of loss, Gott des Verlustes, identifizierte; Gore Vidal, Norman Mailer und Susan Sontag, die seit Jahrzehnten zu allem etwas zu sagen wissen; Paul Auster, dessen "New York Trilogy" die Stadt einst Schritt für Schritt, Satz für Satz als Raum des Traumes, der Zeichen und Wunder erschuf. Don DeLillo gebot seinen Schriftstellerkollegen, "Erinnerung, Zärtlichkeit und Sinn in die brüllende Leere zu tragen". Die "110 Stories", die der New Yorker Germanist Ulrich Baer herausgab, trauern um die hundertundzehn Stockwerke des World Trade Center wie um die Magie der "Tausendundeinen Nacht": Nur im Märchen waren Worte je genug, dem Tod zu trotzen.

Journalisten, denen sonst allzu schmerzlich bewußt ist, daß sie für die Altpapiersammlung schreiben, hatten plötzlich mehr als ein halbes Auge auf die Sterne gerichtet. Sich nie die Sprache verschlagen zu lassen, ist immerhin ihr täglich Brot, und die Sammelbände, Rückblicke, Augenzeugenberichte, die spätestens zum ersten Jahrestag den Buchmarkt überfluten würden, waren abzusehen. Einfacher hatten es Fotografen: Deren Bilder sprachen für sich. Inzwischen ist die Ausstellung der Magnum-Agentur über Tokio nach Chicago gewandert, und sattgesehen haben wir uns längst nicht.

Abseits der Politik lösten die Ereignisse des 11. September jene katastrophische Überreizung aller Sinne aus, die der Mediengesellschaft mit ihren virtuellen und spektakulären Realitäten seit langem prophezeit worden war. Auster erinnert sich, wie er ungläubig zwischen Fenster und Fernseher hin- und herlief und nicht für wahr nehmen konnte, was ihm die Wahrnehmung zeigte. Bruce Springsteen sagt, das hundertmal Gesehene sei erst wirklich geworden, als er von New Jersey über die Brücke fuhr.

Das leidige Quo vadis? der Kulturkritiker schien so bedrückend wie beeindruckend beantwortet: Hierhin, zum "Ground Zero", in diesen schwelenden Ruin, führte die Spaßgesellschaft. Zehn Tage später hatte sie sich schon wieder berappelt. Am 21. September übertrugen mehrere amerikanische Sender zwei Stunden lang ohne Werbepausen ihren "Tribute to Heroes" aus New York, Los Angeles und London. "Islam ist Frieden", schwor Muhammad Ali, Neil Young sang John Lennons "Imagine". Von Paul Simon über Billy Joel bis Bruce Springsteen, von Julia Roberts bis Robert DeNiro übte sich die Unterhaltungsindustrie im Schulterschluß der one nation under God.

Aus deutscher Sicht war das Verhältnis amerikanischer Künstler zum Patriotismus immer komplex, ja pervers und womöglich beneidenswert. Bei uns wäre ein Jasper Johns, der wie besessen die Landesfahne abmalte, als wollte er ihr Herz ergründen, berüchtigt statt berühmt. Allen Ginsbergs Kultgedicht "Howl" verflucht Amerika - und gelobt im nächsten Atemzug, seine "schwule Schulter in die Mühle zu spannen". Mehr als Haßliebe ist das der Stolz, zu dienen und zu lieben, ohne den Protest auf- oder die Andersheit preiszugeben. Daß Präsident Reagan "Born in the U.S.A." zu seinem Motto erkor, war kein Mißverständnis, sondern der Ambivalenz geschuldet, die Springsteens Lied ausdrückt: einer Spannung zwischen affirmativem Refrain und kritischen Strophen.

Derzeit hängt die Rockmusik der Bush-Regierung an den Lippen: "Let's roll for Justice / Let's roll for Truth", macht der gebürtige Kanadier Neil Young "Hatz auf Satan". Weniger kriegerisch schätzt Springsteen seine Gitarre nicht als Waffe, aber immerhin als "Werkzeug" wider die Verzweiflung, wie er dem Spiegel verriet. "Born-again Patriot", "Reborn in the U.S.A.", schallte es durch die Weltpresse, als "The Rising", Springsteens Kunde von der Auferstehung, Ende Juli in den Handel kam: das Wiedererwachen der traumatisierten Nation im Comeback ihres verloren geglaubten Sohnes. Und welch ein Festmahl man ihm daheim bereitet! Sogar das Titelblatt des Time-Magazins durfte er zieren; die Washington Post fand die CD, die außerhalb der USA laue Besprechungen erhielt, "bewegend ... eine Inspiration".

Auf Dauer wird sich der 11. September 2001 ähnlich in der kulturellen Erinnerung niederschlagen wie der 22. November 1963, John F. Kennedys Ermordung: als Datum eines kollektiv erlebten, medial überlebten Schocks. Die ersten Romane, die auf ihn anspielen, um mit wenig Mühe viel Pathos zu wecken, sind schon geschrieben. Indes haben Film- und Musikproduzenten ein neues Bewußtsein der Zerbrechlichkeit verinnerlicht. Bono von U2, der eh lieber Prediger als Popstar geworden wäre, besingt im Soundtrack zu Martin Scorseses "Gangs of New York" einen "Tag, an dem die Unschuld starb". Wie viele Leben hat sie eigentlich, möchte man da freilich fragen.

Kunst, auch das weiß man so erst seit einem Jahr, ist wie jene zwei Lichtsäulen, die nun die Lücke in der Skyline von Manhattan anstrahlen. Sie sagt die Wahrheit, indem sie unseren Blick auf die brüllende Leere am Horizont lenkt. Zumeist lügt sie, indem sie ihr Form und Farbe gibt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen