© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/02 06. September 2002

 
Absturz der Ikarusse
Parteien: Die Grünen sind inhaltlich und personell ausgezehrt / Als Alternativpartei werden sie längst nicht mehr gebraucht
Doris Neujahr

Die Grünen wollen partout weiterregieren nach dem 22. September - es fragt sich, wozu. Denn das großmäulig angekündigte "Rotgrüne Projekt" hat sich als Luftnummer, als biederes "Weiter-so" oder als finanzielle, politische und moralische Hypothek erwiesen. Ausnahmen sind die Landwirtschaftsministerin Renate Künast, die man nur ungern durch einen Vertreter der Agrarlobby ersetzt sehen würde, und der beschlossene Atomausstieg, der von einer schweigenden Mehrheit begrüßt wird. Doch überall sonst, auch auf ihren drei erklärten Hauptfeldern - Energiepolitik, Ökologie und Ausländerrecht -, auf denen sie die Gesellschaft "modernisieren" und den "Reformstau" aufösen wollten, fällt die Bilanz dürftig aus.

Der vorgestrigen, interventionistischen "Industriepolitik" des Kanzlers haben die Grünen nichts entgegenzusetzen. Die deutschen Energiemultis fusionieren, von der Regierung ermutigt, zu Strommonstern und haben mehr Möglichkeiten als vorher, eine nutzer- und umweltfreundliche Energiewende zu blockieren. Gerade wurde die milliardenschwere Subventionierung der Steinkohle auf Jahre festgeschrieben, anstatt das Geld für neue Technologien einzuplanen. Die vielgerühmte ökologische Steuerreform wird sinnentleert, weil die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel, nicht aber die energieintensiven Industrien zur Kasse gebeten werden und die Einnahmen statt in die Förderung regenerierbarer Energien in die Rentenkasse fließen.

Problematisch sind die Gesetze zur Staatsangehörigkeit und Zuwanderung. Das im März beschlossene Zuwanderungsgesetz ist sachlich fragwürdig und nur durch einen antidemokratischen Gewaltakt im Bundesrat zustande gekommen. Die Kriterien für den Erwerb der Staatsbürgerschaft wurden derart verwässert, daß selbst die Zeit angesichts der Pisa-Studie genervt feststellte: "Zwar besitzen viele Eltern ausländischer Herkunft heute einen deutschen Paß. Doch was nützt das Papier, wenn die Mutter auf dem Anmeldebogen unter Staatsangehörigkeit ‚deutchs' notiert?" Und das ist noch nicht alles: Allein im bankrotten Berlin dürfen jetzt ein paar tausend Familien vor allem türkischer Herkunft weitere Angehörige nach Deutschland holen und damit die Sozialkassen belasten. Nichtsdestotrotz will Parteichefin Claudia Roth nach den Wahlen den gerade abgeschmetterten Doppelpaß wieder auf die Tagesordnung setzen.

Fischer ist der am meisten überschätzte Politiker

Zu anderen Themen - Arbeitsmarkt, Steuern, Finanzen, Renten, Bundeswehr - haben die Grünen nichts beizusteuern. Auf dem Minenfeld der Gesundheitspolitik hat die menschlich sympathische, politisch aber unerfahrene (Ex-)Ministerin Andrea Fischer Schiffbruch erlitten. Joschka Fischer wird von einer liebdienerischen Presse als "populärster" deutscher Politiker apostrophiert, doch vor allem ist er der am meisten überschätzte. Wer das Wohlwollen der US-Regierung als "Lackmustest" seiner Politik bezeichnet, ist angesichts des grassierenden US-amerikanischen "Hochgefühls uneingeschränkter Macht" (Helmut Schmidt) eine Fehlbesetzung. Als Baumeister einer stärkeren EU ist er, nach seinem Amoklauf gegen die österreichische Regierung, ebenfalls ungeeignet.

Geradezu lächerlich wirkt die Bilanz, wenn man sie an den Ansprüchen und am narzistischen Selbstbild der Grünen mißt. Im vollen Ernst hatte Antje Vollmer sie in einem Aufsatz als den politischen Vortrupp der "Generation Ikarus" beschrieben. Vollmer grenzte die "Ikarusse" von den "Nachkriegs-Dädalussen", der Generation von Augstein, Springer, Dregger, Genscher und Helmut Schmidt, ab. Die Dädalus-Generation nämlich sei geprägt worden "von der Trauer oder Scham über die Niederlage einer ganzen Nation" und habe ihre Aufgabe lediglich in Wiederaufbau und Demokratisierung, in der Rückgewinnung der Souveränität und der Wiedervereinigung gesehen. Das war - in Vollmers Worten - eine "moderat bis emphatisch deutschnationale" Politik auf "erfolgversprechender Mittelmaß-Höhe".

Dagegen nun die "Generation Ikarus". Sie verkörpert "das andere Deutschland", werde "weit mehr von der Niederlage des antifaschistischen Widerstands berührt (und) versteht sich bewußt europäisch, menschenrechtsorientiert, vaterlandslos, emanzipatorisch und pazifistisch". Zu ihren Repräsentanten rechnet sie die 68er, die Frankfurter Schule, Alice Schwarzer, die Ostermarschbewegung und Oskar Lafontaine.

An dieser Beschreibung ist weiß Gott nichts Himmelstürmendes. Sie wirkt rührend ahnungslos, wenn man ihr die tatsächlichen, knallharten, bis heute ungelösten Probleme entgegenhält. Sie versammelt nur das geistige Mobiliar komfortabel lebender Wohlstandskinder, die sich über die ökonomischen, kulturellen, innen- und außenpolitischen Voraussetzungen ihrer privilegierten Existenz keine ernsthaften Gedanken machen wollen. Vollmers Politikverständis war und ist im Grunde apolitisch, potentiell ist es ideologisch.

Die Grünen, die sich 1980 als Partei konstituierten, sind vor allem ein Generationenprojekt der 68er. Manches war in der Tat sympathisch am Auftreten der damals vergleichsweise jungen Leute, die sich die Ochsentour durch die Gremien der Altparteien ersparen wollten und die entfremdete Logik der eingeschliffenen Politikrituale aufzusprengen versuchten. Etwas verrückt und praxisfern, aber ausbaufähig erschien ihre Mischung aus Kapitalismuskritik, Feminismus und Ökologie. Die heterogene Bewegung aus Protestlern, Alt- und Neulinken, konservativen Umweltschützern, Anti-Militärs, national gesinnten Generälen und Friedensforschern war ebenfalls ein Zukunftsversprechen.

Dieses Versprechen präsentierte sich auch in den atmosphärischen Veränderungen, im - wie man glaubte - menschlicheren Umgang innerhalb der Partei. Auf den Bundeskongressen gab es Küßchen, Sonnenblumen und pulloverstrickende Männer, die interne Konkurrenz schien hart, aber doch herzlich, weil sach- statt karriereorientiert zu sein. Basisdemokratie, flache Hierarchien, die Unvereinbarkeit von Amt und Mandat und das Rotationsprinzip schienen zu garantieren, daß die Politik immer wieder auf den Demos und auf die Sachfragen zurückgeführt würde. Und an der Spitze stand Petra Kelly, schön in ihrer Leidenschaftlichkeit, sich verzehrend, klug, sympathisch, besessen, kompromißlos gegen jedwede Ungerechtigkeit.

Das war, wie man weiß, nur eine Fassade, hinter der Psychoterror und Intrigantentum tobten. Darin aber sind sektiererische Ideologen und Karrieristen unschlagbar. Der konservative Ökologe Herbert Gruhl wurde bald hinausgeboxt, und wer genauer hinsah, dem fiel damals schon die Gewaltnähe und die Dominanz der K-Gruppen-Kader auf. Der grausige Doppelselbstmord von Petra Kelly und Gerd Bastian im Oktober 1991 und die Tatsache, daß das Verschwinden ihrer beiden - längst kaltgestellten - Spitzenpolitiker den "Parteifreunden" wochenlang nicht auffiel, sagte mehr aus über den Charakter der Grünen als alle launigen Parteitagsinszenierungen zusammen.

Daß diese Fassade dennoch hielt, war vor allen den Medien zu verdanken, die die Grünen grundsätzlich positiv darstellten. Kein Wunder, denn die "Ikarusse" waren hier, wie auch in den Schulen, Universitäten, Gremien und Verbänden, längst zu Macht und Einfluß gekommen. Gewiß, bei ihrem Marsch durch die Instanzen hatten sie sich verändert, doch noch größer waren die Veränderungen, die sich in den Instanzen vollzogen hatten. Das ist die Crux der endlosen Kohl-Jahre: Während der steinerne Kanzler müde regierte, prägten die 68er die Gesellschaftspolitik. Die ursprünglich für 1991 vorgesehene Bundestagswahl sollte den Triumph vollkommen machen. Doch dann kamen das Jahr 1989 und die Wiedervereinigung, und es zeigte sich, daß die vorgeblichen Überflieger nicht zu hoch, sondern viel zu tief geflogen waren.

Die Grünen haben den politischen Diskurs vergiftet

Nach Meinung der Publizistin Cora Stephan waren die Grünen die bundesdeutsche "Diskursmaschine". Richtig ist, daß sie, vor dem Hintergrund der Theorieermüdung und Sprachlosigkeit der anderen Parteien, die Meinungsführerschaft erlangt hatten. Aber zu welchen Bedingungen und zu welchem Preis! Statt die Regression der politischen Diskussion und des Sachverstandes aufzuhalten, haben sie sie sogar noch forciert. Das wird deutlich an ihrer Unfähigkeit, den Umweltschutz, der schließlich ihr Originalthema war, in größere politische und gesellschaftliche Zusammenhänge zu stellen. Die Tatsache, daß der Umwelt- und Naturschutz den "Staat dringend braucht" und "verbindliche kulturelle Normen" voraussetzt, mithin ein natürliches Argument gegen die Multi-Kulti-Gesellschaft darstellt, wie der Bielefelder Historiker Joachim Radkau schreibt, hat die Grünen nie interessiert. Die Wahrheit ist, daß ihre idealistische Phraseologie zum Deckmantel für das ideologische Ressentiment verkam.

Die Grünen - und das ist ihr schlimmstes Erbe - haben den politischen Diskurs in Deutschland vergiftet, ja lange faktisch unmöglich gemacht, indem sie einen moralisierenden, erpresserischen Ton einführten. Am deutlichsten wurde das in der Diskussion um die Asyl-, Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsgesetze.

In einer rationalen Diskussion, hätte sie denn stattgefunden, wären zunächst Unterscheidungen getroffen und Begriffe geklärt worden. Denn wenn von "Ausländern" gesprochen wird, geht es niemals um die vielen in Deutschland lebenden Amerikaner, Franzosen usw., auch nicht um die Italiener, Griechen oder Ex-Jugoslawen, die hunderttausendfach als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind. Auch ein beinharter Deutschnationaler hat nichts dagegen, Tür an Tür mit dem spanischen Studenten, der Sprachlehrerin oder der Krankenschwester aus Polen, dem indischen Facharzt, dem türkischen Ingenieur oder dem belgischen Facharbeiter zu wohnen und ihnen den deutschen Paß zuzuerkennen. Ihre Sozialdaten gleichen denen der Deutschen, ihre privaten Marotten und Egoismen ebenfalls. Selbst ein Doppelpaß wäre kein Hindernis. Warum auch sollte man es ihnen erschweren, eines Tages, sei es bei einem Schicksalsschlag, sei es wegen einer unerwarteten Erbschaft, in ihr Herkunftsland zurückzukehren?

Es geht lediglich darum, die Massierung einer sozialen Unterschicht mit bestimmten ethnischen Einschlägen zu verhindern, die durch einen niedrigen Bildungsgrad gekennzeichnet und mit der Gesellschaft oft nur über das Sozialamt verbunden ist. Auch die zahlreichen Kinder - daran lassen die soziologischen Befunde gar keinen Zweifel - werden der Sozialhilfe nur in den seltensten Fällen entwachsen. Von der Umwelt als zugleich ethnische, religiöse und soziale Gruppen abgeschottet, sind sie als solche auch mobilisierbar. Nie hat die "Generation Ikarus" ein konkretes Interesse dafür gezeigt, wie soviel implantierte Verschiedenheit in einem dichtbesiedelten Land möglich sein soll. Ihre Intransigenz läßt wirkliche Empathie für die Zuwanderer und erst recht Sympathie für das eigene Land vermissen. Ihr tiefster Wunsch scheint die Bestrafung der eigenen Landsleute zu sein.

In seinem Buch "Das Altern einer Generation" (1995) hat der Soziologe Heinz Bude festgestellt, daß die 68er-Generation gar kein "anderes Deutschland" verkörpert, sondern mitten in der deutschen Kontinuität steht. Ihr Initialerlebnis war nicht - wie behauptet wird - der Schock über die NS-Verbrechen, sondern die in der Kriegs- und Nachkriegszeit verlebte Kindheit. Der antinationale Reflex erklärt sich also aus einem unbewältigten Kriegstrauma, und die politische Destruktivität wäre die kindliche Rache am Vater-Land. Mit gehöriger polemischer Zuspitzung ließe sich fragen, ob die Profischwinger der Faschismuskeule nicht in Wirklichkeit das letzte Aufgebot des Führers sind, dessen herzlichster, finaler Wunsch bekanntlich die Zerstörung Deutschlands war. Daß ihre destruktive Kraft dazu nicht ausreichte, muß man ihnen gewiß nicht zugute halten.

Die Zahl der grünen Versorgungsfälle ist groß

Die Fortbestand der Grünen hat einen psychologischen Wert für die von ihnen repräsentierte Wählerschaft. Gemeinsam sind sie gealtert und zu Etablierten geworden. Indem die grüne Partei sich ab und an noch radikal gebärdet, ermöglicht sie den erschlafften Revolutionären die Aufrechterhaltung der Lebenslüge, daß sie die Alten geblieben sind!

Richtig wichtig sind die Grünen nur noch als Perpetuum mobile, das heißt, für ihre eigenen Funktionäre und Abgeordneten. Als gelernte Dialektiker brachten die ehemaligen Staatsfeinde es im Erwerb von "Staatsknete" zur Meisterschaft. Ihre vielgelobte Mäßigung und ihr Realismus auf der Regierungsbank gehen vor allem auf persönliche Berechnung zurück. So schnell möchte man aus den Ämtern nicht weichen, und die Zahl der grünen Versorgungsfälle ist groß! Antje "Ikarus" Vollmer platzt heute fast vor Stolz, es zur Bundestagsvizepräsidentin gebracht zu haben, und verschwendet keinen Gedanken mehr an die Notwendigkeit, den übermächtigen Zugriff der Parteien auf den Staat zu lockern. Im Gegenteil, bei der Besetzung von Bundesgerichten, Rundfunkräten, Stadtwerken, in dem großen sub- und semistaatlichen Bereich möchte man jetzt die eigenen Leute unterbringen, die Stiftungen, sinnlosen Projekte, das Heer der potentiellen Frauen-, Ausländer- und Gleichstellungsbeauftragten wollen finanziert werden, usw.

Diese egoistischen Motive begründen aber keinen politischen und inhaltlichen Anspruch. Für die Grünen gilt daher: Abtreten! Sie müssen Platz machen für eine wirkliche, neue Alternativpartei. Denn die wird mehr denn je gebraucht.


 
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