© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/02 06. September 2002

 
Dem Weltstaat entgegen
Ernst Jünger formuliert politisch Unkorrektes in seinem Alterstagebuch "Siebzig verweht"
Manfred Müller

Die Politik jeglicher Färbung ist mir seit langem zuwider, und ich marschiere hinter keiner Fahne mehr her." Dieser Satz findet sich unter dem Datum 3. Januar 1983 in Ernst Jüngers Alterstagebuch "Siebzig verweht" (zitiert nach der Erstausgabe: Bd. III). Er stammt aus einem Absagebrief Jüngers an den Kommunisten Richard Scheringer, den Jünger seit dem Ulmer Reichswehrprozeß 1930 kannte und schätzte. In völligem Kontrast hierzu steht die "Politische Publizistik. 1919 - 1933", ein kommentierter Sammelband, der erst 2001, also nach dem Tode Jüngers, herauskam. In diesen Texten präsentiert sich Jünger als ein zorniger, junger Mann der Weimarer Zeit mit einem überaus radikalen, revolutionären Nationalismus. In "Siebzig verweht" kommentierte er diesen politischen Aktivisten wie folgt: "Die ‚activité politique' sehe ich als wichtigen, doch abgeschlossenen Teil meiner Entwicklung an. Dem entspricht ein Generationsproblem insofern, als in der Jugend der Wille, im Alter die Anschauung überwiegt."

Es bleibt zu fragen, ob Jünger sich bei allen geistigen "Häutungen", die er im Laufe seines langen Lebens durchgemacht hat, etwas von dem nationalen Elan bewahrt hat, der ihn in seinen jungen Jahren so stark bestimmte. Liest man die fünf Bände des Alterstagebuches "Siebzig verweht" (erschienen zwischen 1980 und 1997), so stößt man nur ab und zu auf Politisches. Was Jünger in dem Zeitraum von 1965 bis 1995 an Reiseeindrücken, Begegnungen mit Pflanzen, Tieren, Menschen, Kunstwerken, Lektüre- und Traumerfahrungen festhielt, befragte er vor allem im Hinblick darauf, was an Hinweisen auf die Harmonie eines Weltplanes zu finden sei. Und je mehr sich Jünger der Lebensgrenze von 100 Jahren näherte, desto größer wurde seine Neugier auf das, was jenseits des Todes auf den Menschen wartet. Soweit er Politisches in den Blick nahm, ordnete er dies Prozessen zu, die auf einen "Weltstaat" hinführen (mit der Technik als "Weltsprache" und ethnischen "Mischkesseln" in den Ballungsräumen) und im größeren Zusammenhang der "Endrevolution" zu sehen sind. Aber bleibt da noch Raum für nationales Empfinden?

Zum Jahresbeginn 1981 notierte Jünger: "Ein neues Jahr beginnt. Persönlich könnte ich mit dem vergangenen zufrieden sein, indes beschattet der Mißstand der Welt und insbesondere des eigenen, zerrissenen Landes Tag und Nacht das Gemüt. Es ist ein Nachteil der historischen Erziehung, daß die Bindung nicht gelöst werden kann. Man irrt noch, wie Hannibal nach Zama, eine Zeitlang in der Fremde umher." Mit dem katastrophalen Ausgang des Zweiten Weltkrieges hatte für Jünger diese Umschattung begonnen, die Entwicklung im Nachkriegsdeutschland konnte daran nichts ändern. So stellte er 1969 im Rückblick fest: "Die Wolfszeit hat begonnen - wer weiß, wie lange sie dauern wird."

Erst der Mauerfall und die beginnende Wiedervereinigung schienen auf ein Ende der "Wolfszeit" hinzudeuten. Jünger verfolgte die Ereignisse mit Rührung und Freude. Wer Jüngers 1977 erschienen utopischen Roman "Eumeswil" genau kennt, weiß, daß der Autor dort an einer versteckten Stelle den Fall der Mauer prognostizierte hatte. Doch schon im November 1991 war alle Freude verflogen: "Beim Blick in die Morgenzeitung beschleicht diesen und jenen das Gefühl, der letzte Deutsche zu sein." Zwar war für Jünger die Wiedervereinigung Deutschlands "ein großer Fortschritt zum Vereinigten Europa" (und damit auch auf dem Weg hin zum "Weltstaat"), aber er zweifelte, ob das von der Masse der Deutschen überhaupt begriffen wurde. Enttäuschungen konnten nicht ausbleiben; doch "wenn ein Bruder vor der Tür steht und anklopft, empfängt man ihn mit offenen Armen, ohne zu fragen, was es kostet, und rechnet nicht kleinlich mit ihm ab."

Was Jünger hier meinte, läßt sich mit dem politisch unkorrekten Begriff der nationalen Solidarität erfassen. Schon nach 1945 hatte er eine diesem Begriff entsprechende Haltung der Deutschen erwartet, doch war er bitter enttäuscht worden: "Nach der Niederlage gab es Aussicht, daß alle zusammen anfassen würden, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen - das wurde in der Ökonomie geleistet und blieb auf sie beschränkt."

So sah Jünger trotz der Wiedervereinigung in die "Wolfszeit" zurückgeworfen. Deutschland blieb, wie er es schon 1986 in einer Ansprache gesagt hat "Unser in seinen Grundfesten erschütterndes Land". Diese Gefährdung führte er vor allem auf drei Ursachen zurück: Die Fremdbestimmung, den kulturellen Verfall und die unsägliche Moralisierung der Politik (insbesondere im Zuge einer immer hysterischer werdenden "Vergangenheitsbewältigung").

1966 hatte Jünger geschrieben: "Die Zukunft der Deutschen ist dunkel wie die von Jonas im Bauch des Walfisches. Aufgeteilt, seiner Provinzen beraubt, von mißtrauischen und übelwollenden Nachbarn umringt." 1973 sah der Autor dieses "Rumpfdeutschland" unter "mehr oder minder spürbarer Fremdherrschaft", ein Land, in dem politischen Entscheidungen von Belang gefällt werden, "wie es den Fremden gefällt" und den Fremden darüber hinaus noch Leistungen erbracht werden: "Als liebedienerischer Bauchtanz".

Der Anarch entzieht sich dem staatlichen Zugriff

Diese Fremdbestimmung mochte nach der Wiedervereinigung gemindert oder verdeckt sein, der kulturelle Verfall setzte sich rasant fort: Sprachliche Barbarisierung, Niedergang der Bildungsinstitutionen, Verfall der Umgangsformen und Sitten, die literarische Szene als Literaturkloake. In "Siebzig verweht" findet man hierzu treffliche Notizen (wobei Jüngers Auslandsreiseerfahrungen oft eine kontrastierende Darstellung ermöglichen). Sucht man nach einem zusammenfassenden Begriff, so bietet sich bei Jünger die Bezeichnung Fellachisierung an.

Die politischen Ereignisse - vor allem wegen der Moralisierung der Politik ("Ersatz der Politik durch Moral, des Rechtes durch Soziologie"). Schon 1966 war ihm aufgefallen: "Die Welt ist in eine Phase eingetreten, in der einer am schlechten Gewissen des anderen zapft. Gewissensmelker, ein neuer Beruf. Davon leben Völker, Parteien und Einzelne, Philosophen sogar." Insbesondere widert Jünger die Art der "Vergangenheitsbewältigung" an, die in Deutschland betrieben wurde - vor allem "die doppelzüngige Bewertung der großen Vertreibungen und Ausmordungen": "Zwar werden sie im Prinzip verurteilt, doch ganz verschieden beurteilt, übersehen oder gar entschuldigt - sei es von oben oder von unten, von rechts oder von links, von Ost oder von West". Was Jünger 1977 über die "Nazi"-Masche schrieb, gilt heute immer noch: "Die Deutschen haben ein großes Faß voll brauner Farbe und streichen sich damit gegenseitig an. Man sollte weder seine Intelligenz noch seine Moral so weit zurückschrauben, daß man darauf einginge." Das geistige Niveau dieses Verfahrens ließ sich nach Jünger kaum unterbieten: "Das Potential an Infamie ist gleichbleibend. Sie schlummert in jedem und kann aktiviert werden. Mit Zahl und Reichweite der Medien wächst ihr Einfluß - vor allem auf das naive Gemüt."

Jünger reagierte seit seiner Abwendung vom revolutionären Nationalismus auf die Herausforderungen der unterschiedlichen politischen Systeme, in denen er lebte, in der Haltung eines "Anarchen". Den Anarchen unterschied er sehr deutlich vom Anarchisten (hierzu zahlreiche Notizen in "Siebzig verweht" und in "Eumeswil"). Nach außen mag der Anarch als loyaler Bürger erscheinen, letztlich aber entzieht er sich dem Zugriff der staatlichen Macht. Äußerlich paßt er sich den Formen der Gesellschaft an, "die ihm geistig, moralisch, ästhetisch fremd oder sogar zuwider sind". In diesen Zusammenhang müssen auch demokratiekritische Äußerungen Jüngers eingeordnet werden. So vergegenwärtigte er sich die Fehlentwicklung der bundesdeutschen Parteidemokratie 1972 wie folgt: "An dem absurden Wahlkampf dieser Tage fällt mir auf, daß die Parteien sich in einer Weise ähnlich werden, die es ihnen immer schwieriger macht, sich glaubwürdig gegeneinander abzusetzen. Alle wollen ‚Demokratie, Stabilität, Fortschritt' (was sich ausschließt); alle wollen ‚links' sein, mit geringen Schattierungen (...) Alle haben dieselben Schimpfwörter, mit Vorliebe ‚Faschist'. Die Tenne wird mit einunddemselben Besen gefegt. Bald ist sie leer."

Da sich der bundesdeutsche Parlamentarismus immer mehr zu einer manipulativen Massen- und Mediendemokratie entwickelte, merkte Jünger an: "...die Masse ist weder gut noch böse, sondern einfach dumm".

Bloßer Verfassungspatriotismus reichte nach Jünger für eine dauernde Bestandssicherung des BRD-Gemeinwesens nicht aus: "Recht, Freiheit, Demokratie werden durch die Verfassung im besten Falle festgeschrieben - gesichert nur durch die Freien und Redlichen. Sonst wachsende Unordnung, dann Diktatur." (Autor und Autorschaft, Erstausgabe 1984). Jünger sah die Massen, dem Chaos gegenüber, auf Eliten angewiesen. Elitebildung ist also das Gebot der Stunde. Solche Eliten der "Freien und Redlichen" können aus dem Alterswerk Jüngers, der sich dazu durchgerungen hatte, in "Freiheit" und "Humanität" große Werte zu sehen, Anregungen erhalten. Die Denkfigur des Anarchen mag ihren Reiz haben und in extremen Krisenlagen hilfreich sein, als generelle Leitfigur solcher Eliten ist sie aber nur bedingt tauglich.


 
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