© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 
Von der Bildfläche verschwunden
Hochwasser-Katastrophe: Entgegen allen angekündigten Beteuerungen stehen die Betroffenen schon nach zwei Wochen allein den Schäden gegenüber
Ronald Gläser

Die Welle der Hilfsbereitschaft, die Deutschland angesichts der Elbeflut erfaßt hat, war grenzenlos. Inzwischen ist das öffentliche Interesse am Jahrhunderthochwasser erlahmt. Aber die Aufräumarbeiten sind noch längst nicht abgeschlossen. Die JUNGE FREIHEIT hat seit dem Beginn der Naturkatastrophe eine Gruppe freiwilliger Helfer begleitet:

Waldersee ist ein Vorort von Dessau, bei dem die Elbe und die Mulde zusammenfließen. Deshalb kam es gerade hier zu verheerenden Überschwemmungen. Felder und Wiesen standen weiträumig unter Wasser. Die Landstraße zwischen Dessau und Roßlau entging um Haaresbreite der Überflutung. Dessau selbst konnte gerettet werden. Vorbildlich arbeiteten die Einsatzkräfte von THW, Bundeswehr und Feuerwehr in der anhaltinischen Stadt zusammen. Zwanzig Millionen Sandsäcke wurden verbaut. Eine Million Liter Wasser wurden an die Verteidiger der Deiche in der Augusthitze ausgeteilt. Die Verantwortlichen im Stab des Katastrophenschutzes leiern stolz solche und andere Zahlenkolonnen herunter.

Doch die Helfer konnten nicht alles schützen. Waldersee wurde vollständig überschwemmt. Über einen Meter hoch stand das Wasser in dem 5000-Einwohner-Dorf. 1500 Häuser und Wohnungen fielen der Flut zum Opfer. Ihren Bewohnern blieb nur zehn Minuten Zeit, als sie evakuiert werden mußten. Und das Wasser wollte später nicht zurückweichen, als die Elbe auf ihren alten Pegel zurücksank. An anderer Stelle war der Fluß über die Ufer getreten und hatte sich hinter dem Deich ausgebreitet. Jetzt verhinderte der Deich aber das Abfließen des Wassers. Die Einsatzleitung in Waldersee war ratlos.

Am 18. August trifft erstmals ein Vorauskommando der Pumpspezialisten ein, die zuvor in Dresden im Einsatz waren. Das THW hat sein Hauptquartier im einzigen Restaurant im Ort. Das griechische Lokal trägt ironischerweise den Namen Poseidon. Und sein Keller ist vollgelaufen. Händeringend werden vom Katastrophenstab alle verfügbaren Pumpen angefordert. Noch in der darauffolgenden Nacht begibt sich eine Fahrzeugkolonne von sechs Lkw und Pritschenwagen auf die Reise elbabwärts. Am frühen Morgen treffen der 26jährige Florian Herz und eine Gruppe Freiwilliger mit schwerem Gerät in Waldersee ein.

Noch ist der Ort evakuiert. Die Polizei patroulliert, zumindest an den Stellen, die per Pkw erreichbar sind. Die Einwohner stehen fassungslos vor der abgesperrten Zufahrtsstraße. Hier kommen nur Einsatzkräfte durch. Unser Konvoi parkt am Stadtrand von Waldersee. Unverzüglich wird beraten, wo die Pumpen benötigt werden. Sie sollen noch in derselben Nacht in Betrieb genommen werden. Und so geschieht es auch. Noch vor dem Morgengrauen surren die ersten Tauchpumpen. Florian Herz und seine Freunde, von denen die meisten Studenten aus Berlin sind, haben längst Erfahrung im Umgang mit der Technik.

Zuerst wird der Grundwasserspiegel gesenkt. Ganze Straßenzüge sind nur noch mit Schlauchbooten zu erreichen. Das Wasser wird über den Deich auf das dahinterliegende Ackerland gepumpt. Zusammen mit den Kapazitäten der Feuerwehr und des THW wird so eine Wassermenge von rund 8000 Kubikmetern in der Stunde entfernt. Waldersee ist zu einem stehenden Gewässer geworden. Die Hitze von rund 30 Grad läßt Bakterien und Keime aufleben. "Da ist alles drin, was einen Mann umwerfen kann - Dioxinabfälle, Tierkadaver und Fäkalien", sagt einer der Helfer. Sämtliche Helfer müssen daher mehrmals täglich vom Deutschen Roten Kreuz dekontaminiert werden. Trotzdem fordert der Krankheitsherd seine Opfer. Nach wenigen Tagen sind bis zu dreißig Prozent der Feuerwehrzüge ausgefallen. Die meisten müssen sich mehrfach übergeben und werden mit Schüttelfrost ins Krankenhaus eingeliefert. Eine DRK-Helferin mit mehreren Allergien fällt schon nach zwölf Stunden Dienst aus.

Eine Freude, den Tatkräftigen beim Neuaufbau zuzusehen

Trotzdem wird die logistische Herausforderung gemeistert: Pumpen und schweres Gerät müssen koordiniert werden, Sandsäcke und Gerümpel werden entfernt, Strom- und Essenversorgung sind aber gewährleistet. Sogar die ersten Bewohner dürfen für einige Stunden zurück nach Waldersee. Es sind herzzerreißende Szenen, die an die Bilder der Vertreibung erinnern. Eine alte Frau mit einigen Habseligkeiten wird von einem Helfer in ihr Haus geleitet. Beklommene Gesichter einer Familie mit kleinen Kindern, die den Schaden an ihrem Haus begutachten.

Die Zusammenarbeit der Einsatzkräfte endet just an dem Tag, an dem Bundeskanzler Schröder im Bundestag erklärt, alle staatlichen Hilfskräfte blieben bis zum Ende an Ort und Stelle. Am 22. August wird der Katastrophenalarm aufgehoben. Das THW rückt ab. Damit endet auch die Notstromversorgung. Am nächsten Tag verlassen auch die Feuerwehr und das DRK Waldersee. Der Katastrophenstab im benachbarten Dessau gibt sich desinteressiert. Ein Verantwortlicher spielt die chaotische Lage herunter und spricht vom "Waldersee-Syndrom". Angeblich hätten dort alle Einwohner und Helfer die Nerven verloren.

Jetzt steht der Pumptrupp ohne Strom da. Die Helfer bekommen nichts mehr zu essen und sind der giftigen Brühe ungeschützt ausgesetzt. Florian Herz improvisiert und beschafft neue Stromaggregate. Eine Woche später bezahlt er für sein Engagement, als auch er einen Tag im Krankenhaus verbringen muß: Übelkeit, Fieber, Schüttelfrost. Aber die Bewohner des Dorfes fassen jetzt tatkräftig mit an. Wie durch ein Wunder kehren am nächsten Tag wenigstens einige Rotkreuzhelfer zurück und stellen die Essenversorgung wieder her. Eine andere private Hilfsorganisation, Fluthilfe.com, setzt vierzig freiwillige Helfer in Waldersee ein.

Eines Nachts werden zehn Wathosen gestohlen, ohne die ein Einsatz in vollgelaufenen Kellern nicht denkbar ist. Die Polizei nimmt den Täter fest und beschlagnahmt die Hosen als Beweismittel. "Das kann es ja wohl nicht sein, wir brauchen die Hosen hier", tobt Florian Herz. Vergeblich - denn noch heute verrotten die Wathosen in einer Asservatenkammer.

Trotz so skurriler Ereignisse macht es einfach Spaß, den Menschen zu helfen. Eine alte Frau bricht in Tränen der Freude aus, als wir kostenlos ihr Haus leerpumpen. Ein siebzig Jahre alter Mann führt uns auf seinem Grundstück herum und bewirtet alle Helfer mit Wurst und Schnaps. Als sich herumspricht, daß wir uneigennützig bei den Aufräumarbeiten helfen, zeigen sich die Dorfbewohner sehr dankbar. Uns begegnet kein Dorfbewohner, der auch nur einen Cent Soforthilfe bekommen hat. Aber von Verzweiflung ist kaum etwas zu spüren. Es ist vielmehr eine Freude, den Menschen zuzusehen, wie tatkräftig sie an den Wiederaufbau gehen.

 

Schloß im Wörlitz-Dessauer Gartenreich: Das zum Weltkulturerbe gehörende Luisium ist ringsherum immer noch von Wasser umgeben


 
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