© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 
Auch die Kapitaldeckung hat versagt
Gesundheitspolitik: Die Sozialversicherung bleibt auf der Strecke / Auch Private Kassen müssen Beiträge massiv anheben
Jens Jessen

Nichts geworden ist es mit der Ende 1998 groß propagierten Senkung der Sozialversiche-rungsbeiträge auf unter 40 Prozent. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber jubelten ob dieser Ankündigung. Aber es kam anders. Trotz der unsäglichen Manipulation - Ökosteuer statt für den Umweltschutz zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge-, nehmen die Sozialversicherungsabgaben massiv zu.

Mit einem Beitragssatz von 14,5 Prozent für die Gesetzliche Krankenversicherung 2003 rechnet das Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Bernd Rürup, nach Meldung der Ärzte Zeitung vom 2. September 2002. Die internen Berechnungen der DAK und der Barmer gehen zum Jahresende sogar von Erhöhungen auf 15 Prozent aus (Wirtschaftswoche 34/02)

Der Rentenversicherungsbeitrag wird, so der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, in einem Beitrag der FAZ vom selben Tag, Anfang nächsten Jahres auf 19,5 Prozent steigen.

In der Pflegeversicherung glänzt die rot-grüne Bundesregierung durch Untätigkeit. Die vor Jahren vorhandenen hohen Reserven sind weitestgehend aufgezehrt. Die Beitragssatzerhöhung für die Pflegeversicherung wird bis spätestens 2005 unvermeidbar, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird.

Die Subventionierung der Arbeitslosenversicherung durch den Bundeshaushalt ist bei einer weiteren Zunahme der Arbeitslosigkeit nicht mehr möglich, weil dafür die Mittel fehlen werden. Mit einer Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ist zu rechnen, obwohl sie durch die Senkung der Beiträge von Arbeitslosen zur Krankenversicherung - zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung - erheblich entlastet worden ist.

Arbeitgeber und Opposition gehen deshalb davon aus, daß die Sozialbeiträge auf 42,3 Prozent klettern werden. Wenn der Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber die Ökosteuer abschaffen will, muß er den Sozialversicherten sagen, wie hoch die Quote dann sein wird: 44,3 Prozent. Die Arbeitgeber werden mit Verve gegen die Abschaffung der Ökosteuer sein, um einer zusätzlichen Belastung zu entgehen.

Das Argument, an dieser Misere seien die verschlechterte Konjunktur und die höhere Arbeitslosigkeit schuld, ist eine Binsenweisheit. Wer für diesen Zustand verantwortlich ist, wird nicht gesagt. Die Unfähigkeit der Regierung in einer sich wandelnden Umwelt Strukturveränderungen rechtzeitig vorzunehmen, rächt sich nachhaltig. Die SPD hat sich im Laufe der Legislaturperiode 1998 bis 2002 zur Fünften Kolonne der Gewerkschaft gemausert und damit alle ihre Möglichkeiten zur Modernisierung Deutschlands verspielt.

Das gilt sowohl für den Arbeitsmarkt als auch für die gesamte Sozialpolitik. Die Einnahmen sinken, die Ausgaben nehmen darauf keine Rücksicht. Zur Stabilisierung des Systems müssen die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber zusätzlich belastet werden: Gift für eine schwache Konjunktur und tödlich für jeden Versuch von Reformen.

Was wäre nur, wenn es nicht die Privaten Einrichtungen gäbe, die mit den Beiträgen der bei ihnen Versicherten weitaus besser umgehen können - so steht das im neoliberalen Wirtschaftsteil der Zeitungen und Zeitschriften - als die Sozialversicherungen. Sie sollen auch entschieden kreativer im Umgang mit den Risiken der wirtschaftlichen Entwicklung und damit den staatlichen Einrichtungen überlegen sein.

Was aber ist geschehen, wenn plötzlich in den Wirtschaftsteilen der seriösen Presse steht, daß die Lebensversicherungen nicht mehr in der Lage sind, die erwartete Rendite von über 7 Prozent zu halten (Welt am Sonntag vom 7. Juli 2002). Der Grund dafür liegt in der - Mitte der neunziger Jahre vorgenommenen - rasanten Umschichtung des Portefeuille der Versicherer durch die Aufstockung des Aktienanteils von 8 auf 20 Prozent. Der Börsenaufschwung bescherte zuerst enorme stille Reserven.

Heute hat diese Umschichtung zu erheblichen Schwierigkeiten geführt. Sollte sich die Börse bis Ende des Jahres nicht erholt haben, müssen die Bilanzen der Versicherer bereinigt werden. Ob dann die garantierte Mindestrendite von 3,25 Prozent noch bedient werden kann, wird bei dem einen oder anderen Versicherungsunternehmen fraglich sein. Für die vielen Menschen, die ihr Leben nach der Berufstätigkeit mit den Erträgen aus der Lebensversicherung finanzieren wollen, ist das ein Schock. Eine Beispielrechnung macht nach der WamS deutlich, was es heißt, wenn die Renditen um ein Prozent gesenkt werden: "Die Ablaufsummen fallen meist um etliche zehntausend Euro niedriger aus".

Aber damit nicht genug. Gleichzeitig erschüttert die Wirtschaftswoche in der Ausgabe vom 15. August die privat Krankenversicherten mit der Nachricht, daß die Beiträge der Privaten Kassen ab 2003 zum Teil um über zehn Prozent angehoben werden. Da gerinnt selbst den gläubigsten Kapitalisten das Blut in den Adern. Schließlich sollen die Privaten Krankenkassen viel besser und viel effizienter arbeiten als die auf Solidarität gegründete Gesetzliche Krankenversicherung. Aber auch hier gibt es zur Erklärung dieser Entwicklung Binsenweisheiten an die Adresse der Versicherten. Die Gesundheitsausgaben werden weiter steigen,

- weil moderne Diagnostik und Therapie mehr kosten;

- weil eine höhere Lebenserwartung der Versicherten zu mehr Behandlungen führt;

- weil die Börsenkrise zu einem Zusammenbruch der Verzinsung geführt hat. Auch hier haben die Versicherer das Portefeuille der Anlage der von den Versicherten eingenommenen Prämienanteile für Altersrückstellungen umgekrempelt, indem sie den Aktienanteil stark erhöht hatten. Die Finanzmittel für das Kappen von Spitzen einer Beitragserhöhung sind daher weggeschmolzen;

- weil die Versicherten ihrer Kasse treu bleiben. Diese wollen nämlich den zehnprozentigen Aufschlag auf die kalkulierte Prämie nicht verlieren, der im Alter von über 65 Jahren als Polster gegen hohe Beitragssatzsteigerungen gedacht ist. "Das macht Druck auf die Prämien".

Die Versicherten in diesem System werden genauso geschröpft, wie die im Solidarsystem. Die Ursachen für die höheren Beiträge in beiden Systemen sind bekannt. Die Politik hat die Pflicht, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen, um beide Systeme zu sanieren.


 
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