© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 
Gefechtsdienst mit der Feder
Markus Pöhlmanns Studie zur amtlichen deutschen Militärgeschichtsschreibung
Kai Zirner

Der 68jährige Historiker Hans Delbrück war als Dekan der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität mit großen Erwartungen im Juli 1915 ins oberschlesische Pleß geeilt. Er wollte Generaloberst Erich von Falkenhayn, dem Nachfolger des an der Marne auf ganzer Linie gescheiterten jüngeren Moltke, feierlich die Ehrendoktorwürde ob dessen Verdienste beim deutsch-österreichischen Durchbruch bei Gorlice-Tarnow verleihen.

Im deutschen Großen Hauptquartier mußte Falkenhayn jedoch zu der lästigen akademischen Feierstunde erst von Walter Nicolai, dem Chef des militärischen Nachrichtendienstes, überredet werden. Delbrück durfte schließlich an Ort und Stelle den lateinischen Urkundentext verlesen, worauf Falkenhayn ihm beschied: "Herr Geheimrat! Ich war schon auf der Schule ein schlechter Lateiner und habe kein Wort verstanden. Aber ich nehme an, daß das, was sie vorgelesen haben, sehr ehrenvoll für mich war. Ich empfinde die mir zuteil gewordene Ehre und danke Ihnen dafür. So, meine Herren, nun wollen wir essen!" Aber auch das anschließende Essen verlief nicht viel fruchtbarer. Nicolai notierte anschließend seufzend in sein Tagebuch: "Mit solchen Gelehrten werden sie aber wenig Geschichte über uns schreiben können." Genau das sollten Delbrück und sein schwieriger Schüler Martin Hobohm nach 1918 jedoch, zumindest gutachterlich, tun. Delbrück hatte schon den Generalstabshistorikern der Vorkriegszeit Ärger bereitet, als er den Alten Fritz als Anhänger einer Ermattungsstrategie präsentierte und die herrschende Sichtweise vom Vernichtungsstrategen Friedrich damit in Frage stellte, und er tat es fortan.

Militärgeschichte, um deren Untersuchung es sich bei Markus Pöhlmanns Berner Dissertation handelt, ist zunächst einmal die Geschichte von Kriegen. Auf diese in letzter Zeit durch vielfältige Spielereien ("Operationsgeschichte als Geschlechtergeschichte" hieß letztes Jahr tatsächlich eine Tagung des akademischen "Arbeitskreises Militärgeschichte e.V.") und Kuriosa (aus den Projekten des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA): Die Geschichte der evangelischen Militärseelsorge in der Bundeswehr, Der Bundestagsausschuß für Verteidigung, Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages) verschüttete Banalität macht Pöhlmann dankenswerterweise wieder aufmerksam.

Darüber hinaus besitzt Militärgeschichte jedoch immer eine nahezu tagesaktuelle politische Dimension, erinnert sei an die brutalen Machtkämpfe im und um das MGFA über das bis heute noch nicht abgeschlossene Reihenwerk zum Zweiten Weltkrieg. Bei Pöhlmann steht die Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs im Zentrum, ein Vergleich mit dem Mammutprojekt des MGFA wäre da im Schlußkapitel reizvoll gewesen. Aber auch ohne diesen bietet Pöhlmann eine geradezu spannend zu lesende Organisations-, Militär- und Historiographiegeschichte der amtlichen deutschen Geschichtsschreibung des Ersten Weltkrieges. Die vielfältigen Kämpfe zwischen militärischen und zivilen Stellen um die amtliche Geschichtsschreibung, die ministeriellen Ressortkämpfe um Zuständigkeiten und der "Krieg nach dem Krieg", vor allem gegen Belgien im Hinblick auf die deutschen Repressalien gegen die belgische Zivilbevölkerung zu Beginn des Ersten Weltkrieges - das alles fand vor dem Hintergrund eines dreimaligen Systemwechsels statt, denn die Edition des Weltkriegswerkes konnte erst 1956 abgeschlossen werden.

Amtliche Militärgeschichtsschreibung über den gerade zu Ende gegangenen Ersten Weltkrieg wurde nach 1918 von allen Protagonisten getrieben. Für Österreich ist diese in einem größeren Zusammenhang bio-bibliographisch gerade von Peter Broucek und Kurt Peball erschlossen worden. In Deutschland stand eine amtliche Militärgeschichtsschreibung 1918/19 vor mindestens drei Aufgaben: der stetig steigende Aktenberg mußte archiviert, gesichtet und ausgewertet werden, die zahlreichen Legenden über den Krieg und seine Ursachen entkräftet und politische Sprengsätze entschärft werden. Darüber hinaus stellten sich noch zwei informelle Aufgaben, die jedoch für die verantwortlichen Militärs zentral waren: zumindest ein kleiner Teil der zwangsentlassenen Offiziere sollte nach der alliierten Auflösung des Großen Generalstabes und der drastischen Beschränkung der Offiziersstellen weiterbeschäftigt werden. Und natürlich ist Kriegsgeschichte immer als Lehrbeispiel für die Ausbildung künftiger Offiziere gedacht. Wer dies wie der Kieler Neuhistoriker Michael Salewski in seiner FAZ-Rezension als "heißen Glauben an einen anderen, nun siegreichen Krieg" überbewertet, dem muß eine ahistorische Elfenbeinturmmentalität bescheinigt werden. Eher ging es den amtlichen Militärhistorikern darum, die immerhin seit 1816 bestehende Arbeit der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des preußischen Generalstabes fortzusetzen.

Doch zunächst wurde 1919 zur Bewältigung der beschriebenen Aufgaben das erste deutsche Nationalarchiv, das sogenannte Reichsarchiv gegründet, als dessen erster Präsident der bayerische (Proporz!) Generalmajor Ritter Mertz von Quirnheim fungierte. Die neue zivile Komponente kam durch die Zuordnung zum Innenministerium, der Überführung der nun ihren Gefechtsdienst mit der Feder versehenden Offiziere in zivile Beamtenverhältnisse und der Bildung einer Historischen Kommission zum Ausdruck. In dieser Kommission waren neben Politikern und Offizieren Geschichtsprofessoren unterschiedlichster Provenienz vereinigt: vom rechten "Bismarckianer" Erich Marcks über die liberalen Altmeister Hans Delbrück, Friedrich Meinecke und Hermann Oncken bis zum USPD-Sympathisanten Gustav Mayer reichte das Spektrum. Die Selbstlähmung der Kommission war damit vorprogrammiert, wenn es ihr auch gelang, zivile Historiker im Reichsarchiv unterzubringen, darunter die Linksliberalen Veit Valentin und Martin Hobohm. Entscheidend für die Entwicklung des Reichsarchivs wurden jedoch die ministeriellen Mitspieler. Das Reichswehrministerium konnte seinen Einfluß auf das Reichsarchiv stetig ausbauen, das Auswärtige Amt unterband die politische Geschichtsschreibung, über die es sich mit seinen eigenen, auf die "Schuldfrage" fixierten Aktenpublikationen zur Vorgeschichte des Weltkrieges ein Monopol zu sichern trachtete. Daher fiel das Weltkriegswerk auch, bei allem Bemühen, hier im zeitgenössischen Diskurs die Deutungshoheit zu behaupten, stärker operationsgeschichtlich als ursprünglich geplant aus; somit nahm es die Tradition der Generalstabsgeschichtsschreibung wieder auf. Flankiert wurde das Mammutunternehmen durch eine "grüne" Schlachtenreihe - zu der auch Laien wie der Schriftsteller Werner Beumelburg mit Schilderungen des blutigen Gemetzels vor Ypern samt des mystifizierten Sturmlaufs bei Langemarck ihren Beitrag leisten durften -, Zeitschriftenbeiträgen der Mitarbeiter, Einzelveröffentlichungen und einem geschickt verflochtenen Rezensionskartell.

Dem Reichsarchiv war analog zur Republik ein "klangloses Ende" beschieden: nach 1933 wurde der gesamte Komplex Luftwaffe ausgegliedert (die Marine hatte ohnehin nie dazugehört) und eine Rumpfabteilung dem Oberkommando des Heeres zugeschlagen, das Projekt einer Kulturgeschichte des Weltkrieges erledigte sich nach der Selbstamputation durch das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die letzten beiden Manuskripte als Abschlußbände des Weltkriegswerkes vom Bundesarchiv Koblenz herausgegeben. Das Weltkriegswerk lag damit in 14 Bänden und zwei Sonderbänden über Kriegswirtschaft und Feldeisenbahnwesen vor. Neben der stärkeren Beachtung der Wirtschaft hatte nun auch die Kritik Einzug in die offiziöse Militärgeschichtsschreibung gehalten, was besonders Moltke und Falkenhayn zu spüren bekamen. Auch die historisch-kritische Methode gehörte nun zum Instrumentarium der Kriegsgeschichte, Quellen aus dem eigenen Archiv blieben allerdings weiterhin ungenannt. Gleichwohl war die Militärgeschichte nun zu einer historischen Teildisziplin geworden.

Markus Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914 bis 1956, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2002, 421 Seiten, 52 Euro


 
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