© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 
Vergessene Tote
Ostfront an der Neiße
Detlef Kühn

In Ostsachsen hielt die deutsche Front, die von der sogenannten Armee Schörner gebildet wurde, etwa bis zum 6. Mai 1945 östlich der Autobahn Berlin-Dresden. Ihr gegenüber stand die 1. Ukrainische Front unter Marschall Konjew, zu der auch die 2. Armee des Polnischen Heeres gehörte. Letztere war erst vor einigen Monaten aufgestellt worden.

Im Raum Bautzen wurden in der Zeit vom 23. bis 26. April die Stadt und zahlreiche Dörfer der Umgebung von der Wehrmacht in schweren Kämpfen zurückerobert und bis Kriegsende gehalten - der letzte deutsche Sieg im Zweiten Weltkrieg. Dabei fanden die deutschen Soldaten viele Opfer von Mordtaten der sowjetischen und auch der polnischen Angreifer. Allein in Niederkaina waren am 22. April mindestens 275 deutsche Kriegsgefangene, Volkssturmmänner und Soldaten umgebracht worden. Zu ihnen gehörte auch der Vater des Autors. Sein Schicksal war Anlaß, daß sich der Sohn, von Beruf Strafrichter, mit den vor allem in der DDR vergessenen Toten dieser Zeit beschäftigte.

Seine wichtigste Quelle waren die Begräbnisbücher der dörflichen Gemeinden, die der Autor flächendeckend durchgesehen hat. Mit Recht würdigt Seidel die Zivilcourage der Pastoren, die fast ausnahmslos die wahren Todesursachen dokumentiert haben. Trotz zurückhaltender Bewertung der Fakten kommt Seidel zu dem Ergebnis, daß nach dem 16. April allein in Ostsachsen mindestens 716 Zivilpersonen willkürlich getötet wurden, oft im Zusammenhang mit Vergewaltigungen. Dabei wurde kein Unterschied zwischen Deutschen und Sorben gemacht, die nach Angaben der DDR-Historiker die polnischen und sowjetischen Truppen als Befreier begrüßt haben sollen.

Seidel verschweigt nicht, daß es nach Entdecken der sowjetischen Untaten durch die wieder vorrückenden deutschen Truppen auch zu zahlreichen Erschießungen von Kriegsgefangenen durch die Deutschen gekommen ist. Es wird interessant sein, ähnliche Untersuchungen auch für andere Gebiete "Ostelbiens" anzustellen.

Theodor Seidel: Kriegsverbrechen in Ostsachsen. Die vergessenen Toten vom April/ Mai 1945. Edition Ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2002, 136 Seiten, 8,90 Euro


 
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