© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 
Land der Wälder und Seen
Wer Estland bereist, wird mit einer reichen Vergangenheit und einer verwirrend bunten Gegenwart konfrontiert
Adrian Gerloff

Wer Estland bereist, denkt an Skandinavien, wundert sich, daß die Vorstellungen von einer russisch dominierten Gesellschaft nicht bestätigt werden und ist erfreut, noch selbst etwas entdecken zu können. Estland ist für unsere Begriffe von geringer Ausdehnung, aber ungeheurer Weite, und Unzulänglichkeiten gehören zum Charme dieses Landes. Ärger über Mängel, oft auch Mißverständnisse bleiben nicht aus und erfordern vom Touristen Verständnis, Geduld und Rücksichtnahme auf landesübliche Gepflogenheiten.

Das Land zwischen Ostsee und Peipussee ist mit einer Fläche von 47.549 Quadratkilometern in der Größe vergleichbar mit Dänemark, den Niederlanden oder der Schweiz. Mit den landwärts angrenzenden Staaten Rußland und Lettland bestehen Differenzen im Grenzverlauf, so daß von estnischer Seite 2.000 Quadratkilometer als von den Nachbarstaaten unrechtmäßig besetzt betrachtet werden. Von den 1,57 Millionen Einwohnern Estlands verteilt sich ein Drittel auf den Großraum der Hauptstadt Tallinn und ein weiteres auf die Städte Tartu, Narva, Kohtla-Järve, Pärnu und Viljandi. Durch den hohen russischen Bevölkerungsanteil, vor allem im Osten des Landes, ist Russisch geduldete Zweitsprache. Der Großteil von Estlands Bevölkerung ist konfessionslos.

Estlands Klima ist sehr unterschiedlich. Der Westen ist durch die Nähe zur Ostsee maritim beeinflußt und zeichnet sich durch kühlere Sommer, ausgeprägte Herbste und milde Winter aus. Im östlichen Teil des Landes herrscht ein kontinental geprägtes Klima vor. Kurze, heiße Sommer und kältere Winter sind bestimmend. Mit seinen circa 1.400 Seen ist Estland ein sehr wasserreiches Land. Besonders im westlichen Teil entstanden viele Seen aus ehemaligen Buchten der Ostsee. Die Küste ist durch circa 1.500 Inseln von sehr abwechslungsreicher Gestalt und fein strukturiert. Saaremaa, Hiiumaa, Muhu und Vormsi gehören zu den größeren Inseln im Ostseeraum und zeichnen sich durch eine besondere landschaftliche Formenvielfalt aus.

40 Prozent der Landesfläche werden von Wäldern eingenommen; rechnet man Schonungen, Waldwiesen und Schläge dazu, ist die Hälfte des Landes von Wald bedeckt. Darüber hinaus stellt Estland für viele Pflanzen, vor allem auf den Inseln der Westküste, die nördlichste Verbreitungsgrenze ihrer Art dar. Ökologisch günstige Voraussetzungen durch die geringe Besiedlungsdichte und die geographische Lage ermöglichen ein reiches Arteninventar in Fauna und Flora der nördlichsten baltischen Republik. Auch der Systemwechsel hat sich positiv auf die Anwendung zukunftsorientierten Naturschutzes ausgewirkt. Die Bestrebungen der Regierung, die Kriterien zur Voraussetzung für die Aufnahme in die EU zu erfüllen, sind ein Segen für den Erhalt der Natur in Estland. Kostenintensive Untersuchungen und die Unterschutzstellung, auch die Schutzstatuserhöhung werden seitens der Regierung unterstützt und gefördert. 13 Prozent der Fläche Estlands sind bereits geschützt. Es ist davon auszugehen, daß sich die Zahl enorm erhöht. Durch die Größe der Flächen ist es schwer, Parallelen mit vergleichbaren Gebieten in Mitteleuropa zu ziehen. Demzufolge treten auch andere Probleme auf, deren Lösungen durch höheren finanziellen Aufwand und langfristige Informationsarbeit bei der dort lebenden Bevölkerung weitaus mehr Zeit und Engagement in Anspruch nehmen werden, als es für uns vorstellbar ist.

Die in Folge des Zweiten Weltkrieges zahlreich zerstörten Bauernhöfe wurden nur teilweise wieder aufgebaut. Heute ist das gesamte Gebiet Estlands von verlassenen Gehöften, gar dörflichen Siedlungen übersät. Durch die Perspektivlosigkeit in der Landwirtschaft zieht es viele Menschen in die Städte - wodurch viele ehemals bewirtschaftete Flächen brachfallen. In dünn besiedelten Landesteilen und Gebieten mit hoher Wilddichte ist die Wilderei ein Problem, das den Artenschutz erschwert. Hauptsächlich durch den Abschuß von Elchen können einige Menschen ihren Lebensunterhalt verbessern, indem sie das Fleisch an illegale Nahrungsmittelbetriebe verkaufen. Für einen 800 Kilogramm schweren Elch werden 20.000 estnische Kronen (1.300 Euro) Fleischpreis gezahlt und somit ist es ein sehr lukratives Geschäft. Polizei und Behörden sind auf Grund der geringen Personalstärke und der Weitläufigkeit des Landes machtlos. Bei allen angesprochenen Problemen ist jedoch nicht zu vergessen, daß zahlreiche Bemühungen die Natur und Landschaft Estlands in ihrer Eigenart, Schönheit und Vielfalt zu erhalten und zu schützen überall zu erkennen sind und das Umweltbewußtsein der Esten deutlich zeigen.

Das Umweltministerium Estland ist sehr bemüht, vor allem Moore und Feuchtgebiete in großer Zahl unter Schutz zu stellen oder bestehende Schutzgebiete in höhere Kategorien aufzuwerten. Als Mitglied in weltweit operierenden Organisationen wie der World Conservation Union (IUCN) strebt Estland in Anlehnung an internationale Richtlinien einen konsequenten Schutz der Moore an und ist bemüht, den Anforderungen der "Trondheim Declaration" von 1994 gerecht zu werden.

Wer Estland bereist, wird immer wieder, zu seiner Verblüffung, mit der reichen Vergangenheit konfrontiert und eine verwirrend bunte Gegenwart erleben. Wer einen kurzen Abstecher in das alte Kulturland geplant hat, wird selbstredend mit einem anderen Bild von Estland heimkehren, als vor seiner Abfahrt. Wer durch Estland reist, wird sehr unterschiedlichen Menschen begegnen, je nachdem welcher Gesellschaftsschicht sie angehören, ob sie in einer Stadt wie Tallinn oder auf dem Land leben. Eines jedoch wird man immer wieder feststellen: Es ist hier nur wenig russisch.

Informationen: Bei Volker Roewer, Internet: www.estland.ee ; 003 72 /5 10 22 66, E-Post estland@estland.ee .


 
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