© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Leistungsanreize
Karl Heinzen

Nur 16 Prozent der deutschen Arbeitnehmer, so behauptet eine Studie der Unternehmensberatung Gallup, gehen ihrer Beschäftigung mit Engagement nach. 69 Prozent leisten bloß Dienst nach Vorschrift. Weitere 15 Prozent sind nicht einmal dazu bereit.

Zahlen, die überraschen, da sie dem Bild, das sich die Menschen eigentlich von ihrer Arbeit machen sollen, widersprechen. Gut angezogene, jugendlich wirkende Angestellte, die in knuffigen Kleinwagen in luftige Büros mit Designermöbeln fahren, um dort dampfenden Kaffee zu trinken und dank modernster Technologien mit interessanten Menschen aus aller Welt zu kommunizieren: Dieses Arbeitnehmerparadies auf Erden, in dem der gemeinsame Wunsch nach Unternehmenswertsteigerung von Herzen kommt, ist zwar in den Erzählungen über den Schick der freien Marktwirtschaft allgegenwärtig, scheint sich aber in der betrieblichen Alltagswirklichkeit noch nicht nennenswert durchgesetzt zu haben. Die Arbeit ist für die meisten vielleicht nicht mehr schmutzig und hart. Sie ist aber unverändert stumpfsinnig und vor allem erniedrigend, da sie nicht auf freier Entscheidung des Einzelnen fußt, sondern seine primitive materielle Daseinserhaltung, die Unterordnung unter nicht weniger primitive materielle Interessen einiger weniger, die die Lotterie der Eigentumsverteilung nach oben gespült hat, zu verlangen scheint. Arbeit ist für die allermeisten kein Akt sinnvoller Lebensgestaltung, in deren Dienst man bereitwillig Opfer erbringt, sondern immer noch eine Lebenszeitvernichtung gigantischen Ausmaßes.

Warum schweigen die Betroffenen? Warum widersetzen sie sich nicht der totalitären Zumutung, ihr Los nicht nur ertragen, sondern auch noch preisen zu müssen? Es ist die Angst vor dem sozialen Nichts, die sie in die Camouflage treibt. Die da draußen, die nach Arbeit suchen, mögen zwar nicht besser qualifiziert sein. Sie könnten aber unter Umständen den Eindruck vermitteln, sie seien besser motiviert. Diese Angst hat sich nicht über Nacht ausbreiten können. Noch vor einem Vierteljahrhundert, bevor unter Helmut Schmidt der marktwirtschaftliche Rollback einsetzte, war die Humanisierung und sogar Demokratisierung des Arbeitslebens ein Thema öffentlicher Debatten, und die Beschäftigten sahen es nicht als kluge Vertretung ihrer Interessen an, als legitim empfundene Forderungen zurückzustellen. Die Massenarbeitslosigkeit hat sie belehrt, daß sie froh sein dürfen, wenn sich mehr Arbeit, die von weniger Menschen zu leisten ist, auch auf ihre Schultern verteilt. Der Abbau des Sozialstaates, dessen Fortsetzung ihnen nahezu jedes ernst zu nehmende Wahlprogramm verspricht, bewahrt sie davor, ihre Möglichkeiten zu überschätzen. Dankbar dürfen sie jedem bettelnden Obdachlosen in die Augen schauen. Er bestätigt sie in dem Gefühl, daß der Weg nach unten jedem offensteht. Niemand muß daher befürchten, daß das von Gallup porträtierte Massenbewußtsein in sozialen Übermut umschlägt.


 
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