© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
"Zuwanderung wird stattfinden"

Der sächsische CDU-Spitzenkandidat Michael Luther über sinkende Umfragewerte und das konservative Profil der Union
Moritz Schwarz

Herr Dr. Luther, bei den meisten Themen, die die Schlagzeilen der letzten Wochen beherrscht haben - Flutkatastrophe, TV-Duell, Irak-Krieg -, konnte Rot-Grün punkten. Mittlerweile ist der Vorsprung der Union in den Umfragen dahingeschmolzen, und die SPD liegt mit Werten die - je nach Meinungsforschungsinstitut - zwischen 37 und 40 Prozent schwanken, gleich auf mit, bzw. knapp vor der Union. Welche Konsequenzen zieht die Union wenige Tage vor dem Urnengang aus dieser Situation?

Luther: Wir führen unseren Wahlkampf ganz normal weiter und ich muß Ihnen ehrlich sagen, wenn ich täglich mit den Leuten auf der Straße im Gespräch bin, merke ich nichts von einer Zufriedenheit mit der Politik der derzeitigen Bundesregierung, sondern spüre den Wunsch nach einem Wechsel. Vor allem drängen die Menschen in den neuen Ländern auf eine Neuorientierung in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, um wieder Schwung in den Aufbau Ost zu bekommen. Die Umfragen sind eine Sache, die tatsächliche Stimmung bei den Menschen eine andere.

Am vergangenen Wochenende wurde die kritische Lage, in der sich der Wahlkampf der Union befindet, immer deutlicher. Prompt präsentierte die Union am Montag in Berlin eine "Grundkonzeption für eine Novellierung des Zuwanderungsgesetzes". Wie widersprechen Sie da dem nordrhein-westfälischen Innenminister Fritz Behrens, der von einem populistischen "Griff nach dem letzten Strohhalm" spricht, da man "die Unterschiede zwischen den Vorstellungen der Union und dem vom Bundespräsidenten unterzeichneten Zuwanderungsgesetz mit der Lupe suchen muß"?

Luther: Edmund Stoiber hat bereits vor dem Wochenende, nämlich bei der letzten Bundestagssitzung vor der Wahl am vergangenen Freitag noch einmal alle Punkte angesprochen, die für die Menschen wichtig sind. Und natürlich gehört die Zuwanderung dazu, nicht umsonst hat auch die FDP das Thema noch einmal auf die Tagesordnung setzen lassen. Im rot-grünen Zuwanderungsgesetz finden sich trotz aller Beteuerungen doch erhebliche Mängel. Das Gesetz nennt sich zwar "Zuwanderungsbegrenzungsgesetz", tatsächlich aber handelt es sich um ein "Zuwanderungsbeschleunigungsgesetz". Verantwortungsvolle Politik ist es aber, die horrende Arbeitslosenzahl zu bekämpfen und die in Deutschland lebenden Ausländer zu integrieren, statt Tür und Tor für neue Einwanderung zu öffnen.

Allerdings kommt die Präsentation des CDU-Zuwanderungskonzeptes in der Tat für einen ehrlichen Wahlkampf reichlich spät, so als ginge es der Union gar nicht um den Inhalt, son-dern darum, in letzter Stunde noch einmal Wähler zu mobilisieren.

Luther: Nein, Schwerpunkt des Wahlkampfes ist und bleibt natürlich Wirtschaft und Arbeit. Aber die Menschen fragen auch nach der Zuwanderungsproblematik, deshalb ist es richtig und wichtig, zu diesem Thema Stellung zu beziehen. Natürlich vor der Wahl!

Hätten Sie das Thema nicht von Anfang an pointierter vorstellen müssen? Sie bestätigen selbst, daß es den Menschen am Herzen liegt.

Luther: Ich glaube nicht, das Thema rangiert bei den Wählern nicht vor den Themen Wirtschaft und Arbeit. Es war richtig, hier den Schwerpunkt zu setzen. Das Thema Zuwanderung haben wir aber trotzdem entsprechend seiner Wichtigkeit im Kompetenzteam von Günther Beckstein prominent behandeln lassen.

Auch die Union bekennt sich zu Deutschland als einem Einwanderungsland. Vergraulen sie damit nicht jene Wähler, die die Union unter Helmut Kohl jahrelang mit genau der gegenteiligen Feststellung bei der Stange gehalten hat?

Luther: Wir müssen uns damit abfinden, daß Zuwanderung in Zukunft einfach stattfinden wird. Wir liegen mitten in Europa, und die Grenzen sind offen. Die Frage ist, ob ich diesen Vorgang noch befördere, wie es das rot-grüne Zuwanderungsgesetz tut, oder ob ich ihn eindämme.

Auch in puncto Irak-Konflikt steuerte Edmund Stoiber nach dem Umfragetief vom vergangenen Wochenende am Montag nach. Während er Bundeskanzler Gerhard Schröder im Fernseh-Duell noch vorgeworfen hatte, durch eine eindeutige Aussage gegen eine deutsche Beteiligung an einem Angriff auf den Irak Saddam Hussein in die Hände zu spielen, so hat er nun doch im ZDF mit dem Satz "Im Irak werden niemals deutsche Truppen stehen" nachgezogen. Wie ist diese neue Eindeutigkeit zu verstehen?

Luther: Es war schon zuvor klar, daß es unter einer unionsgeführten Bundesregierung keine Beteiligung deutscher Soldaten an einem neuerlichen Feldzug gegen den Irak geben wird. Das wollen und können wir gar nicht leisten. Aber andererseits ist es wichtig, das Versprechen einzuhalten, das Deutschland vor einem Jahr gegeben hat, nämlich die Uno zu stärken, um dem internationalen Terrorismus das Handwerk zu legen. Aus wahltaktischen Gründen eine solch populistische Diskussion anzufangen, wie das Gerhard Schröder mit seinem "deutschen Weg" getan hat, mit den Ängsten der Menschen zu spielen und Deutschlands Rolle in der Welt zu beschädigen, ist sowohl außenpolitisch als auch für die demokratische Kultur in Deutschland unverantwortlich.

Unabhängig davon, wie glaubwürdig Bundeskanzler Schröders Position sein mag, stellt sich die Frage, ob es nicht schlicht ein Fehler seitens der Union war, zu versuchen, sich mit einem "beherzten sowohl als auch", wie es spöttisch in der Presse hieß, über die Runden zu retten, statt sich gegenüber den Wählern klar zu dem Thema zu äußern?

Luther: Im Gegensatz zu Gerhard Schröder, der mit seinen Versprechungen schlicht unglaubwürdig ist, hat Edmund Stoiber mit seiner Position gegenüber den Wählern Klartext gesprochen: Wir wollen keinen Krieg, aber Deutschland muß seine internationale Verantwortung wahrnehmen. Man muß den Menschen zudem ehrlich sagen, daß die Bedrohung, die von Saddam Hussein ausgeht, auch uns einmal betreffen kann. Deshalb ist es notwendig, jetzt zu handeln, bevor es zu spät ist. Gerade hier können wir Deutsche auf unsere eigene Geschichte verweisen: Denn hätte die Weltgemeinschaft ab 1933 schärfer auf Deutschland aufgepaßt und eingewirkt, wären vielleicht der Zweite Weltkrieg und Auschwitz verhindert worden.

Die Wähler favorisieren in der Irak-Frage nicht nur deshalb die Position Bundeskanzler Schröders, weil er ihnen ein deutsches "Heraushalten" verspricht, sondern auch weil Schröders Pose des "deutschen Weges" im Gegensatz zur ständig die Verpflichtung gegenüber den USA betonenden Position Edmund Stoibers souveräner und nationaler, sprich selbstbestimmter erscheint. Hätte Edmund Stoiber also nicht mehr nationale Eigenständigkeit demonstrieren müssen?

Luther: Nein, solch eine Position würde ich niemals mittragen! Und ich bin sicher, Edmund Stoiber auch nicht. Es geht insbesondere in der Außenpolitik nicht um Wahlversprechen, sondern um Wahrheit und Klarheit. Lügen haben bekanntlich kurze Beine und vielleicht reichen die des Herrn Schröder bis zur Wahl, aber spätestens danach wird sich die Richtigkeit dieser Volksweisheit beweisen.

Es ist in Deutschland die Union, die nach ihrem Selbstverständnis den konservativen und rechten Wählerflügel abdeckt und der national gesonnene Wähler ihre Stimme geben sollen. War es da nicht ein Fehler, sich von der SPD national überholen zu lassen und darauf dann auch noch anational mit dem Primat der Bündnistreue zu reagieren?

Luther: Ich bin mir ziemlich sicher, daß Gerhard Schröder das, was er heute den Deutschen verspricht, in Kürze schon gegenüber den Amerikanern auf den Knien liegend zurücknehmen wird. Schröder ist in jeder Beziehung unglaubwürdig, er hat schon mehrfach alles Mögliche aus der Situation heraus versprochen, aber später nichts gehalten. Schröder bedient sich ganz skrupellos des Populismus, wenn es ihm gerade paßt.

Auch in puncto Wirtschaftspolitik versucht der Bundeskanzler die Union, der traditionell vom Wähler die größere Wirtschaftskompetenz zugebilligt wird, durch populistische Maßnahmen auszustechen. Etwa durch medienträchtige Interventionen bei angeschlagenen Großunternehmen, wie jüngst Mobilcom.

Luther: Friedrich Merz hat es am Donnerstag vortrefflich auf den Punkt gebracht: "Wenn die großen Firmen wegen falscher Geschäftspolitik ins Wanken kommen, kommt der Bundeskanzler. Kommen aber die Kleinen ins Wanken, kommt der Konkursverwalter." Ich komme aus einem Land, daß den Sozialismus erlebt hat, daher weiß ich, wohin solch sozialistisch inspirierte Politik führt. Die Menschen erwarten aber, daß wieder Wirtschaftspolitik mit Perspektive gemacht wird, statt überall nur Löcher zu flicken.

Wie realistisch ist aber eine echte Wirtschaftspolitik à la Union, wenn ihr Koalitionspartner in spe, die FDP, zum Beispiel auf einen Spitzensteuersatz von 35 Prozent besteht?

Luther: Wir sind uns mit der FDP immerhin einig, daß die Steuern gesenkt werden müssen. Das "wie" müßte in der Tat in einem Koalitionsvertrag ausgehandelt werden. Auf jeden Fall aber wird es künftig eine der Politik der derzeitigen Regierung ganz und gar entgegengesetzte Politik sein. Rot-Grün ist bei jedem Problem doch nichts anderes eingefallen, als Steuererhöhungen vorzunehmen: Denken Sie an das Rentenproblem, das mit der Ökosteuer beantwortet worden ist, oder an den 11. September, auf den mit der Erhöhung der Versicherungssteuer reagiert wurde. Und nun bei der Elbeflut fällt Schröder nichts weiter ein, als eine Verschiebung der Steuersenkung, also faktisch eine Steuererhöhung. Jedesmal wirken diese Maßnahmen kontraproduktiv in Bezug auf die Ankurbelung der Wirtschaft. Mir ist jedenfalls ein Prozent Wirtschaftswachstum lieber, als der Versuch, die Probleme durch Erhöhung der Steuern in den Griff zu bekommen.

Allerdings stellt sich auch beim Thema Wirtschaft nun der Effekt ein, die eigene Klientel zu vergraulen. Wie schon bei der Zuwanderungsfrage die rechten Wähler, bei der Irak-Frage die nationalen Wähler, so hat die Union mit ihrer Ablehnung des Dosenpfands die eigenen Wähler aus dem Mittelstandssegment verärgert.

Luther: Auch hier liegen die Dinge nicht so einfach. Die Dosenpfand-Problematik muß man zu Ende denken. Natürlich leuchtet die Erhebung eines Dosenpfandes den meisten Menschen zunächst einmal ein. Nur wird dies nicht zu einer Verringerung der Einwegverpackung-Getränkedose führen, sondern, im Gegenteil, zu deren weiterer Verbreitung. Das ist natürlich komplizierter als ein einfaches "Ja", aber ich finde es wichtiger, sich mit den Problemen auseinanderszusetzen, als Versprechungen zu machen, die nachher nicht aufgehen.

Auch wenn die Union für ihre Position gute Gründe haben mag, so ist das aber mit Blick auf eine anvisierte Kanzlerschaft Edmund Stoibers keine Antwort auf dessen "Prinzip", zielsicher die eigenen Wähler zu verschrecken. Stoiber galt bei seiner Nominierung als Kanzlerkandidat der Union im Frühjahr als "messerscharf". Spätestens seit dem Schwenk in der Familienpolitik mit der Berufung Katherina Reiches zeigten sich aber die Kirche, viele christlich-konservativen Wähler und auch eigene Parteifreunde enttäuscht.

Luther: Die Union ist eine moderne Partei. Für mich bedeutet konservativ nicht das starre Festhalten am Bestehenden, sondern das Bestehende wertzuschätzen, um die Entwicklung für die Zukunft in die richtigen Bahnen zu lenken. Deshalb habe ich als Konservativer auch kein Problem damit, für Veränderungen einzutreten. Unsere Gesellschaft hat sich verändert und Katherina Reiche ist eine Frau, die - kompetent und sympathisch - genau diese Elemente des Bestehenden und des Zukünftigen ideal verbindet. Deshalb war ihre Berufung das richtige Signal, vor allem mit Blick auf die neuen Bundesländer.

In der Mitte konkurriert die Union mit der SPD um die Wähler. Diese Wähler stellen sich aber jetzt, wenige Tage vor der Wahl, als unzuverlässig heraus. Mit dem Wettlauf um die Mitte hat man etliche konservative Wähler vergrätzt. Was, wenn am kommenden Sonntag nun vielleicht gerade deren Wählerstimmen für einen Sieg Edmund Stoibers fehlen?

Luther: Wir haben mit dem Kompetenzteam eine Summe von personellen und inhaltlichen Angeboten gemacht, die einmalig in Deutschland sind. Da mache ich keine Abstriche.

Nicht zuletzt durch die von der Union mitgetragene Ausgrenzungspolitik wird die Schill-Partei womöglich nicht den Sprung in den Bundestag schaffen. Jürgen Möllemann aber hat bereits klargestellt, daß er sich für die FDP lieber ein Bündnis mit der SPD als mit der Union wünscht. Läuft die CDU/CSU nicht Gefahr, sich am Ende selbst isoliert zu haben und könnten ihr am kommenden Sonntag nicht Prozente, sondern schlicht ein Koalitionspartner für die Regierungsübernahme fehlen?

Luther: Ich denke, das Beste ist immer noch, der eigenen Kraft zu vertrauen. Wir sind eine Volkspartei und müssen auf eigenen Beinen stehen können. Was Herrn Schill angeht, so haben sich seine Partei und er - zumindest was die Bundesebene angeht - selbst disqualifiziert, und ich vermute, daß es diese Partei auch in Hamburg nach der nächsten Wahl nicht mehr in politisch relevanter Größe geben wird. Das Spektrum der Union spannt sich von Rechts bis Mitte und darüber hinaus. Da findet auch das Wählerklientel der Schill-Partei in Zukunft ganz sicher wieder seinen Platz.

Jede der beiden Volksparteien braucht gemeinhin einen Partner. Sehen Sie keinen strategischen Nachteil, wenn die SPD je nach Laune der FDP bis zu drei Optionen hat, während die Union dann ohne eine einzige ist?

Luther: Noch einmal: Wichtig ist, daß wir am kommenden Sonntag stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag werden. Danach sehen wir weiter. Ich zweifle allerdings nicht daran, daß Edmund Stoiber nicht nur die Wähler, sondern schließlich auch unseren potentiellen Koalitionspartner überzeugen wird.

 

Dr. Michael Luther Vorsitzender der CDU-Landesgruppe Sachsen im Deutschen Bundestag und Spitzenkandidat der sächsischen Landesliste. Von 1998 bis 2000 war er stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Der 1956 in Zwickau geborene Diplomingenieur trat im November 1989 der CDU bei und war als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU Mitglied der letzten Volkskammer der DDR. Seit 1990 ist er Abgeordneter des Deutschen Bundestages.

 

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