© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
Von der Niederlage noch nicht erholt
Frankreich: "Sozialistische Einheitspartei" geplant / Verwirrung und Auflösungserscheinungen bei den linken Parteien
Charles Brant

Die französische Linke hat große Mühe, sich von der Niederlage des sozialistischen Kandidaten Lionel Jopin bei den Präsidentschaftswahlen im April zu erholen. Im Bemühen, das Vertrauen der Wähler wiederzugewinnen, muß sie um ihre Strategie und Identität ringen und vor allem einen neuen Vorsitzenden finden.

Jospins Schlappe und sein unvermittelter Rückzug aus dem politischen Leben haben die Linke ratlos zurückgelassen. Front National-Chef Jean-Marie Le Pen in der Präsidentschaftsstichwahl mit Jacques Chirac zu sehen und die erneute und eindeutige Ablehnung der Wähler bei den Parlamentswahlen im Juni hinnehmen zu müssen, kann nicht einfach gewesen sein - genausowenig wie der gleichzeitige Verlust ihres Chefs, ihrer Macht und ihrer Gewißheiten. Daß Umfragen der Linken einen drastischen Schwund jeglicher Glaubwürdigkeit bescheinigen, läßt die Parti Socialiste (PS) nur noch verbitterter und desillusionierter werden. Um sich darüber hinwegzutrösten, setzt man alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.

Zu Beginn des Sommers hatte Michel Rocard, der von 1988 bis 1991 Premierminister war, sich in einem langen Artikel in Le Monde recht kluge Gedanken über das Ausmaß der notwendigen Reformen gemacht. Offenbar hat niemand diesen Text gelesen. Die PS-Sommeruniversität, die Ende August in La Rochelle stattfand, stand ganz im Zeichen der mühsamen Suche nach einer neuen Linie.

Hinter den Kulissen gab es die üblichen persönlichen Querelen um die Frage, wer für die Misere verantwortlich zu machen sei. Ein giftiges Pamphlet seines früheren Kabinettmitglieds Marie-Noëlle Lienemann kritisierte Jospins Person so ausgiebig wie seinen Wahlkampf. Arnaud de Montebourg empfahl der PS "eine Dosis Viagra" - ein Rat, der die Stimmung der Partei auf den Punkt bringt.

Momentan gibt es zwei Ansätze: den "Sozialliberalismus" der Parteispitze, zum anderen die "Umkehr nach links". An der Spitze der liberalen Richtung versuchen sich der derzeitige PS-Abgeordnete für Seine-Maritime, Ex-Premier Laurent Fabius, und Ex-Finanzminister Dominique Strauss-Kahn gegenseitig in ihrer Wirtschaftsgläubigkeit zu überbieten. Die beiden "Elefanten" - wie die Sozialisten ihre "Großfüßler" nennen, die sich als Minister bewährt haben - wollen den Sozialismus an neue Gegebenheiten anpassen. Ihre Absichten unterscheiden sich kaum von dem "sozialen Liberalismus" des neuen bürgerlichen Premiers Jean-Pierre Raffarin.

Am 29. August veröffentlichte Fabius in Le Monde das Ergebnis der Hausaufgaben, die er sich über die Sommerferien gestellt hatte. Auf der Suche nach den "Kennzeichen der Linken" fällt ihm die Solidarität ein, die "ebenfalls wirkungsvoll eingesetzt werden muß". Eine "Art Maginot-Linien-Sozialismus" lehnt Fabius ab. Äußerst vorsichtig bricht er das Tabu der Privatisierung, indem er einen Unterschied macht zwischen "dem, was im öffentlichen, nicht profitorientierten Sektor verbleiben muß (Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Verteidigung, Kultur), und jenen Bereichen, in denen die Verpflichtungen eines dem Staat unterstehenden Dienstleisters mit der Logik des Marktes abgestimmt werden müssen".

In einem Balanceakt zitiert Fabius im selben Atemzug Karl Marx und den französischen Reformsozialisten Jean Jaurès. Er greift "die ungerechten Entscheidungen der derzeitigen Regierung" ebenso an wie "den klassischen Weg der Sozialdemokratie". Den Sozialisten empfiehlt er, ihren Blickwinkel zu erweitern: "Die Linke hat sich selbst geschadet, indem sie den Bereich des Politischen zu stark auf die Wirtschaft und das Sozialwesen beschränkt hat. Die Ökologie muß genauso im Mittelpunkt unserer historischen Vision stehen wie die Kultur, denn die großen Debatten des 21. Jahrhunderts werden sich an diesen Themen entzünden." Des weiteren betont Fabius die "internationalistische Komponente" des Sozialismus und rechtfertigt die Einbeziehung der "europäischen Dimension": "Heutzutage muß jeder Linke genauso europäisch wie national denken."

Dieser Ansatz wird nicht nur von einer Mehrheit der Parteimitglieder vertreten, sondern kann auch auf die Unterstützung des früheren PS-Ministers und heutigen Bürgermeisters von Mülhausen, Jean- Marie Bockel, zählen. Dem überzeugten Anhänger des Briten-Premiers Tony Blair und geistigen Vater des französischen "Sozialliberalismus" wird von politischen Gegnern nachgesagt, er verleugne das Erbe der großen Vorfahren und zerstöre die Einzigartigkeit der "linkesten Linken" in ganz Europa, indem er sich kampflos dem Gesetz des Marktes, der kapitalistischen Logik und den Befehlen des Arbeitgeberverbandes MEDEF unterwerfe.

Zu diesen Gegnern gehört die ehemalige Arbeitsministerin und Bürgermeisterin von Lille, Martine Aubry. Mit einiger Verbitterung quittiert die 52jährige PS-Linke den mangelnden Enthusiasmus, den ihre Parteigenossen für ihr Steckenpferd, die 35-Stunden-Woche, aufbrachten. Auch Henri Emmanuelli ist ebenfalls kein Freund Bockels. Der 57jährige Ex-Minister hat es auf das Amt des PS-Vorsitzenden abgesehen und kann mit der Unterstützung des linken Parteiflügels rechnen, dem Jean-Luc Mélenchon, Marie-Noëlle Lienemann und der frühere Trotzkist Julien Dray angehören. Diese "Linke der Linken" macht sich für eine "fortschrittliche" Politik stark.

Der derzeitige Erste Sekretär der PS, François Hollande, hat nicht das Charisma eines Parteichefs. Manche spekulieren nur auf den eigenen Aufstieg - Jack Lang oder der Pariser Bürgermeister Bernard Delanoë etwa sähen sich gerne in einer nationalen Rolle - oder auch darauf, daß Jospins Abschied von der politischen Bühne nur ein vorläufiger war. Der 65jährige ehemalige Parteichef hatte verlautbaren lassen, er plane nicht für immer zu schweigen. Schon hatten einige Genossen - wenn auch vergeblich - auf seine Teilnahme an der Sommeruniversität gehofft.

Zu allem Überfluß müssen sich die verwaisten Sozialisten auch noch mit der von der bürgerlichen Rechten vorangetriebenen Bipolarisierung der Politik auseinandersetzen. Die an andere linke Parteien ergangenen Aufrufe zur gemeinsamen "Erneuerung" sind Gesten der Hilflosigkeit.

Um überhaupt hoffen zu können, eines Tages wieder an die Macht zu gelangen, muß die PS jene linken Stammwähler zurückgewinnen, die sie durch ihre Kompromisse mit der Globalisierung, der Marktwirtschaft und dem Primat der Inneren Sicherheit verloren hat. Sämtliche innerparteilichen Querelen müssen hinter derlei realpolitischen Erwägungen zurücktreten: Vorrangig muß es den Sozialisten darum gehen, ihre Wählerbasis zu verbreitern. Und dazu brauchen sie - spätestens für die nächsten Präsidentschaftswahlen in fünf Jahren - einen Siegertypen an der Parteispitze.

Daher wollen die Sozialisten den Chirac-Coup kopieren und eine Sammelpartei gründen, die die verschiedenen (linken) Formationen unter einen Hut bringt. Bislang sind ihnen nur Absagen erteilt worden.

Für Jean-Pierre Chevènements linksnationalen Republikanischen Pol bedeutete das katastrophale Ergebnis der Parlamentswahlen das Aus. Seine Mitglieder sind nun gezwungen, sich nach neuen politischen Häfen umzusehen. Der 63jährige Chevènement, der bei den Präsientschaftswahlen noch über fünf Prozent der Stimmen erzielte, will mit seinen Getreuen eine neue Partei gründen, die "weiter links" angesiedelt ist. Sein Kampfgenosse, Ex-Minister Georges Sarre wettert indes gegen die "liberal gewordenen" Sozialisten, um den Wählern das "republikanische Modell" schmackhaft zu machen.

Der Kommunistischen Partei (PCF) ist von den Wahlen 2002 nur ein riesiger Schuldenberg geblieben. Dennoch kann sie sich für das PS-Projekt einer "Einheitspartei" absolut nicht begeistern. PCF-Nationalsekretärin Marie-George Buffet lehnt diesbezügliche Vorschläge entschieden ab, obwohl sie behauptet, ihre Beteiligung an der Regierung Jospin nicht zu bedauern. Für die neue Regierung unter Raffarin hat die 53jährige Ex-Sportministerin scharfe Kritik übrig: "Alle seine politischen Entscheidungen fallen zugunsten des France d'en haut aus - der französischen Oberschicht, die herrscht, ausbeutet und sich bereichert."

Besonders die "Erhöhung der Ministergehälter und die Geschenke, die den Arbeitgebern gemacht wurden", sind ihr ein Dorn im Auge. Buffet, die die PCF gemeinsam mit dem 55jährigen Vorsitzenden Robert Hue, der bei den Präsidentschaftswahlen so kläglich scheiterte, aus der Krise führen will, steht keine leichte Aufgabe bevor.

Bei den Grünen hat die Stunde der Selbstkritik geschlagen. Die Parteichefin Dominique Voynet hat ihren Rücktritt angekündigt. Beim nächsten Parteitag im Dezember in Nantes werde sie nicht wieder kandidieren, sagte die ehemalige Umweltministerin, die vor einem Jahr aus der Jospin-Regierung ausgeschieden war, um den Parteivorsitz zu übernehmen. Aus ihrer Enttäuschung angesichts der verpatzten Chancen und der "politischen Unreife" ihrer Parteigenossen macht Voynet kein Hehl. Auch Noël Mamére, der es als grüner Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen auf immerhin 5,2 Prozent der Stimmen brachte, nimmt kein Blatt vor den Mund.

Die fünfjährige Regierungsbeteiligung habe die Glaubwürdigkeit der Grünen untergraben und Jospin nur als "ökologisches Feigenblatt" gedient, kritisiert Mamére die "jospinistische Illusion" einer pluralistischen Linken und fordert seine Partei zur ideologischen Rückbesinnung auf. Ein Bündnis linker Parteien hält er für "utopisch", zumal "nicht die Architektur der Linken, sondern das Material, aus dem sie gebaut ist", fragwürdig geworden sei. Allerdings träumt auch er von einer "neuen sozialen Allianz", in der die Grünen ihre Autonomie bewahren könnten.

Sozialliberale Ansätze sind ihm suspekt. Statt dessen redet er ganz offen dem Kommunitarismus das Wort: "Nicht der Kommunitarismus bedroht Frankreich, sondern die Auflösung traditioneller Gemeinschaften und der Verlust des Gemeinschaftsgefühls. Es geht nicht darum, Frankreich in Gefahr zu bringen, sondern darum, auf das Bedürfnis nach Zugehörigkeit einzugehen, indem man vor allem in den Vorstadtsiedlungen lokale Solidaritäten wiederherstellt und Einwanderern das Wahlrecht gibt, um sie staatsbürgerlich verstärkt einzubinden."

Und die Trotzkisten? Um Arlette Laguillier (5,7 Prozent bei der Präsidentschaftswahl) und ihre "Arbeiterkampf"-Partei Lutte Ouvrière (LO) ist es still geworden. Die Revolutionäre Kommunistische Liga (LCR) dagegen fühlt sich sichtlich beflügelt von dem 4,3-Prozent-Ergebnis ihres jungen Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot. LCR-Chef Alain Krivine verweigert sich lauthals einer Linken, die "wie ein Satellit um die zum Liberalismus bekehrten Sozialisten kreist". Besser gefällt er sich in der Rolle als "Alptraum der Rechten". Vor allem müsse man die Forderungen der sans-papiers, der illegalen "papierlosen" Einwanderer unterstützen und eine "vereinte Front" bilden, die die "Linken unter den Linken" in einer "großen sozialen Bewegung" zusammenbringt, um den Kapitalismus und die Globalisierung zu bekämpfen. Die französische Linke ist gespalten zwischen dem ideologischen Zeitgeist und der Nostalgie nach einem etatistischen Sozialismus. Einig ist sie sich nur in ihrer Verachtung für die Rechte (sprich: von Chirac bis Le Pen) und in ihrem Bekenntnis zur "Religion der Menschenrechte". Für die Hartnäckigsten - und die Randständigsten - unter ihnen bildet der Kampf gegen die Globalisierung eine Ersatzideologie.

Im Herzen der PS verbreitert sich der Graben zwischen den Anhängern des Antikapitalismus und den Konvertiten zur liberalen Denkrichtung. Die Weichen für die 2004 anstehenden Regional-, Kantons-, Senatoren- und EU-Wahlen werden die französischen Sozialisten sicherlich erst bei ihrem Parteitag im Mai 2003 in Dijon stellen.

Fototext: Ex-PS-Chef Jospin mit Aubry (l.) und Nachfolger Hollande (r.): Linke Stammwähler zurückgewinnen


 
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