© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002


Der Westen hat kein Konzept
von Arthur Flußbauer

Worum geht es bei den aktuellen Geschehnissen zu Anfang dieses 21. Jahrhunderts? Geht es wirklich um den von Samuel Huntington ausgerufenen "Clash of Zivilisations", um einen Kampf der Kulturen? Als sei es das einzig mögliche intellektuelle Echo auf den Zusammensturz der Türme des World Trade Centers, so hallt dieses Schlagwort jetzt in den Erklärungen der Politiker und in den Kommentaren wider. Dabei übersehen die Propheten des "Zusammenpralls der Kulturen", daß uns dieser Zusammenprall nicht erst bevorsteht. Er hat sich ausgehend vom europäischen Kulturraum im Lauf der Geschichte von Missionierung und Kolonialisierung längst vollzogen - mit dem Ergebnis, daß rund um den Erdball älteste indianische, afrikanische und asiatische Kulturen barbarisch zerstört oder wie der Islam in ihrer Fortentwicklung zurückgeworfen wurden.

Was sich jetzt vollzieht, ist also ein noch unabsehbarer Wandel der Kulturen. Davon ist die westliche oder abendländische Kultur keineswegs ausgenommen. So dürfte das eben angebrochene Jahrhundert zumindest in seinen ersten Jahrzehnten von Terror mitgeprägt sein, und zwar in Form einer zunehmend entstaatlichten, marodisierenden und halbkriminellen Gewalt. Dafür steht der 11. September 2001. Es hat sich eine ideologische Konfrontation der vermeintlich zivilisierten Welt mit einem Feind-Phantom aufgebaut, auf das alle möglichen Ismen projiziert werden: Fundamentalismus, Islamismus und Terrorismus. Die Wucht des Anschlags soll uns alle zu Amerikanern machen.

Wenn nun das große, heilige Amerika - "God's own country" - denen, die sich dagegen verschworen haben, den Krieg erklärt, will es zu einem Kreuzzug gegen den Terrorismus aufbrechen. Krieg und Terror werden zum Gegensatzpaar, so daß der Krieg legitimes Mittel der Notwehr oder Selbstverteidigung ist, der Terror jedoch verabscheuungswürdiges Verbrechen gegen die Menschheit. Im Grunde sind Krieg und Terror aber keine Alternativen. Der Krieg hat immer terroristische Züge und der Terror kriegerische.

Inzwischen ist seit dem 11. September einige Zeit ins Land gegangen. Aus den von Huntington ideologisch vorgezeichneten "Bruchlinien" zwischen den angeblich so gegensätzlichen, ja feindlichen Kulturen, ist für die Weltpolitik die "Achse des Bösen" geworden. DerKrieg der Kulturen aber, von dem Huntington gesprochen hat, ist vor dem Hintergrund der Globalisierung nichts anderes als der Kampf um die Herrschaft über die Welt, um Macht also.

Es ist, als ob alle entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tendenzen der Zeit in einer heimlichen Verschwörung mit den Institutionen seien, die dazu dienen könnten, Menschen wirklich "als Überflüssige zu behandeln und zu handhaben" (Hannah Arendt). In dieser Beobachtung deutet sich eine weitere Erscheinung an, die Totalitarismen sowohl ermöglicht, als auch kennzeichnet, nämlich eine alIgemeine und keineswegs immer durch Terror erzwungene Billigung jener "Erfindungen" totalitärer Systeme.

Diese Billigung speist sich gerade unter dem Einfluß von Ideologien aus einem gewissen "common sense" und in Verbindung damit aus einem mehr oder weniger utopischen Gleichheitsideal. Daran, wie totalitäre Systeme mit dem Gleichheitsprinzip verfahren, läßt sich recht anschaulich eines der argumentativen Vereinfachungsmuster darstellen, mit denen es Ideologen immer wieder gelingt, nicht nur schlichtere Gemüter auf ihren weltanschaulichen Leim zu locken: mit der Vertauschung von aktiver und passiver Negation. Wie man sich im Leben zu bestimmten Gegebenheiten einstellt, ob man sie bejaht oder verneint, insbesondere aber wie - also auf welche Art und Weise - man etwas verneint, spielt für das Zustandekommen weltanschaulicher Überzeugungen und damit eben auch für Ideologien eine entscheidende Rolle. Man verneint etwas passiv, indem man nicht daran glaubt oder es einfach ignoriert. Die aktive Verneinung geht weiter: sie ignoriert nicht nur einfach, was da verneint werden soll, sondern sie ist dagegen, ja sie bekämpft den zu negierenden Sachverhalt.

Bezieht man diese Möglichkeiten, etwas zu verneinen, hier auf das Gleichheitsprinzip, wäre zunächst zu fragen, was dadurch (nämlich durch Gleichheit) verneint wird. Wo Gleichheit herrscht oder herrschen soll, kann es keine Unterschiede geben. Gleichheit verneint also Unterschiede, wobei die schlichte Abwesenheit von Unterschieden (bzw. ihre Verleugnung) der Fall einer passiven Negation (von Unterschieden) wäre. Die aktive Negation von Unterschieden käme demgegenüber der (aktiven) Abschaffung von Unterschieden gleich. Unter dem Einfluß von Ideologien, für die das Gleichheitsprinzip höchstes Gebot ist, wird dann häufig aus der passiven Negation von Unterschieden unversehens aktive Negation: Ein Anders-Sein wird nicht nur einfach übersehen, sondern man geht dagegen vor, zum Beispiel mit Gesetzgebung und Rechtsprechung einschließlich der Möglichkeit, Menschen überflüssig zu machen. Aus "Es gibt keine Unterschiede" wird: "Es darf keine Unterschiede geben".

Hält man nun Ausschau, wo in unserer Gegenwart Menschen überflüssig gemacht werden, braucht man keineswegs in irgendwelchen entlegenen Winkeln dieser Erde nachzuforschen. Arbeitslosigkeit macht auch in unserem sozio-kulturellen Umfeld Millionen von Menschen "überflüssig". Fragt man bei Arbeitslosen nach, wird man jedenfalls von den meisten zu hören bekommen, daß sie sich wirklich überflüssig vorkommen.

Alte und Kranke oder Behinderte finden sich mehr oder weniger aus der Gesellschaft ausgeschlossen und in (lagerähnlichen) Pflegeeinrichtungen untergebracht. Vielfach werden Sie Institutionen überlassen, die sie im Grunde als "Überflüssige" behandeln und handhaben.

Die widerlichste Art, Menschen überflüssig zu machen, kommt dadurch zum Ausdruck, wie man auf der ganzen Welt Kinder verwahrlosen läßt, sei es nun im Elend der "Straßenkinder" oder als "Kindersoldaten", sei es in der Lieblosigkeit der Wohlstandsverwahrlosung. Kindesmißbrauch- und Mißhandlung greifen in einem Ausmaß und in Erscheinungsformen um sich, wie nie zuvor.

Mit dem Stigma der "Überflüssigkeit" sind neben Verbrechensopfern vor allem die Folteropfer gezeichnet. "Wer gefoltert wurde, hat einen Teil seines Lebens eingebüßt", stellte unlängst der Präsident der Deutschen Ärztekammer fest, und "bleibt er ohne Hilfe, ist auch der Rest verloren." Amnesty International hat konkrete Hinweise darauf, daß international in 111 Ländern der Welt gefoltert wird. Man muß befürchten, daß die Mehrzahl der Folteropfer ohne Hilfe bleibt. Zu den Heerscharen derer, die immer wieder überflüssig gemacht werden, gehören gewiß auch die Menschen, die überall "im Wege" sind, wo Krieg geführt wird: Flüchtlinge und Migranten, einschließlich sogenannter "Kollateralschäden".

Schließlich fallen unter die Überflüssig-Gemachten alle Menschen, die man verhungern läßt, sei es nun, daß ihr Hungertod gezielt herbeigeführt oder einfach billigend inKauf genommen wird, obwohl Mittel zur Rettung bereitstünden.

Ob man auch die Opfer eines industrialisiert-hedonistischen Lebensstils zu den Überflüssig-Gemachten rechnen soll, ob außer den Abgetriebenen , auch Verkehrs- oder Drogentote oder Selbstmörder, das bleibe dahingestellt.

Aus dieser überschlägigen Bilanz ergibt sich - ob man es will oder nicht - daß der von Hannah Arendt so hellsichtig erkannte "pervertiert-böse Wille", Menschen "überflüssig zu machen", zugleich mit dem Totalitarismus der Vergangenheit durchaus noch nicht vergangen ist. Vielmehr scheint er sich in immer neuen Varianten global auszubreiten.

Zu den totalitären Erfindungen müssen unter Umständen auch Erfindungen der Gentechnik gerechnet werden. Giorgio Agamben stellt in seinem Buche: "Homo sacer" die These auf, "das Lager" und nicht der Staaat sei zum biopolitischen Paradigma der Gegenwart geworden. Angesichts der vorläufig zweifelhaften Möglichkeiten der Genforschung muß man sich aber fragen, ob nicht eine völlig neue Form des Totalitarismus entsteht, wenn der Mensch in frühen Stadien seiner Entwicklung zur verfügbaren "Bio-Masse" erklärt wird, und "überzählige" Embryonen, die weltweit in Tausenden von Reproduktionskliniken erzeugt werden, in Kühllagern enden.

Widerfährt den überzähligen Embryonen nicht ein erschreckend ähnliches Schicksal wie jenem "Homo sacer", den Giogio Agamben aus der Gesellschaft ausgeschlossen sieht? Wenn nun unter den Vorzeichen früherer Totalitarismen tatsächlich das Lager und nicht der Staat biopolitisches Paradigma war, könnte sich mit dem Zeitalter der Genforschung nicht ein neues biopolitisches Paradigma abzeichnen, das sich nicht mehr im KZ oder Gulag, sondern in Laboratorien und Kühllagern realisiert, wo menschliches Leben in nicht mehr überschaubarem Umfang verbraucht wird?

Verband sich der Totalitarismus vergangener Tage noch mit bestimmten namhaften Machthabern, so lassen sich für den Hunger in der Welt, für Armut, Arbeits- und Heimatlosigkeit und andere Modernisierungs- und Globalisierungsschäden kaum mehr Einzelne namhaft verantwortlich machen. Zwar verfügten auch Hitler und Stalin über zahllose Helfer. Doch waren es diese Diktatoren persönlich, die das Sagen hatten, wer zu den "Überflüssigen" gehörte und wer nicht. In Zeiten zunehmender Privatisierung und "Kommerzialisierung" von Gewalt verschwinden die Einzeltäter. Statt dessen nimmt die Anonymität zu, aus der heraus totalitäre Strömungen ("mainstreams") jene Billigung finden, die sie benötigen, um schließlich ihre "Erfindungen" konkret anwenden zu können. Ein weiteres Ingredienz des alten und neuen Totalitarismus ist der Haß. Da aber der Haß zu einer Ware geworden ist, die auf Websides und Videos gehandelt wird, konnte sich eine regelrechte "Haßindustrie" entwickeln.

Und es ist die Anonymität des Internets, die dieser Verbreitung Vorschub leistet. Da das Internet den Konsumenten von allen Hemmungen befreit, erweist sich spätestens hier die Zivilisation als verrottet. Das Internet stiftete eine Gemeinschaft der feigen Brutalität. Wie Frank Schirrmacher nach dem Massaker eines Schülers an einem Erfurter Gymnasium im Frühjahr 2002 berichtet, übergab Abraham Cooper, ein Funktionär amerikanischer Erziehungsorganisationen, der den Auftrag hatte, einen der jugendlichen Littleton-Attentäter zu analysieren, der Polizei eine Liste von 1.400 Webseiten, auf denen jede Form von Haß annonciert und vermarktet wird. "Haß", so Cooper, "ist eine Wachstumsindustrie, die durch das Internet geschaffen wird. Eric Harris, einer der Killer von Littleton, hat nachweislich im Internet eine Menge Material gefunden, das sein antisoziales Verhalten guthieß und seine Pläne billigte." Mit "antisozialem Verhalten" ist hier genau das gemeint, was Hannah Arendt als das radikal Böse mit dem "pervertiert bösen Willen" bezeichnet hat, nämlich Menschen überflüssig zu machen. Und das Böse, meint der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer, ist vom Guten weniger denn je zu trennen, topographisch und vielleicht auch begrifflich. Symptome, die zumindest den Verdacht wecken, daß auch in unserer Gegenwart die Gefahren keineswegs gebannt sind, und daß Hitler vielleicht, wie von Carl Amery befürchtet, tatsächlich "Vorläufer des 21. Jahrhunderts" ist, lassen sich in beängstigender Vielfalt diagnostizieren. Um sich gegen einen neuen Totalitarismus zu schützen, empfiehlt es sich zunächst, gegenüber der eigenen ideologischen Verführbarkeit Stärke zu entwickeln.

Diese Stärke kann sich in der Fähigkeit zum Verzicht erweisen, also darin, sich nicht kritiklos für alle möglichen kollektiven Identitäten einnehmen zu lassen. Menschliche Stärke kann sich mit anderen Worten in der Fähigkeit erweisen, sich zu bescheiden. Ganz in diesem Sinne mahnte nach den Anschlägen des 11. September 2001 der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer: "Unverzüglich wären die Trugbilder zu korrigieren, denen wir uns selbst hingeben und die wir in unserer Selbstdarstellung verherrlichen." Sie seien es, die vor allem außerhalb der westlichen Welt "den Zorn auf sich ziehen, weil ihre Inkonsistenz erahnt wird und unser Festhalten an ihnen als unsägliche Arroganz wahrgenommen wird. Wir sollten schleunigst von unserer Rechthaberei und unserem Machbarkeitswahn lassen. Wir sollten zugeben, daß auch wir nicht wissen, wie die Zukunft beherrscht werden kann, daß auch wir in Prozesse eingebunden sind, die sich jeder intentionalen Steuerung entziehen. Wir sollten eingestehen, daß auch wir unter der Erschütterung unserer Glaubens- und Wertesysteme leiden, und daß manche der uns vorgeworfenen Auswüchse direkte Folge dieses Unbehagens sind. Die Ersetzung von spirituellen Inhalten durch materielle und die Betäubung gestörten Selbstwertes durch die Ablenkungsaktivitäten unserer Spaßgesellschaft zählen dazu. Wir sollten uns eingestehen, daß auch in unserer Gesellschaft gealtert, gelitten und gestorben wird und daß auch wir, und gerade wir, kein Rezept gegen die Erfahrung der Endlichkeit haben."

 

Philipp Arthur Flußbauer, Jahrgang 1939, ist Nervenarzt, zuletzt Leiter der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie am Bundeswehrkrankenhaus Hamburg. Veröffentlichungen vor allem auf dem Gebiet der Xenologie (Wahrnehmung des Fremden).


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