© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002


"Rechts Prozente liegengelassen"
Der Politologe Frank Pilz über die Wahlkampffehler der Union, die Rückkehr der PDS und die zweite Chance der Schill-Partei
Moritz Schwarz

Herr Dr. Pilz, am vergangenen Sonntag rief sich zunächst Edmund Stoiber, dann Gerhard Schröder zum Wahlsieger aus. Die Union hat hinzugewonnen, die SPD verloren, stellt aber weiter den Bundeskanzler, wozu ihr allerdings wiederum nur die Stimmen des überraschend angewachsenen grünen Koalitionspartners verholfen hat. - Wen betrachtet in diesem Wirrwarr die Politikwissenschaft als Sieger, wen als Verlierer?

Pilz: Man muß hier wohl eine Unterscheidung zwischen "Gewinner" und "Sieger" machen. Die Union hat die Wahlen wohl gewonnen, gesiegt hat aber Gerhard Schröder, der durch die günstigere Konstellation die Kanzlerschaft erringen konnte.

Ist die Union tatsächlich Gewinner der Wahl, zwar hat sie Stimmen hinzugewonnen, aber dennoch nur ein Patt erzielt und an Mandaten sogar weniger errungen als die SPD?

Pilz: Ein Zugewinn in der Wählergunst wie ihn die Union erzielt hat, ist durchaus auch ein Kriterium für einen Wahlsieg. Aber in der Tat sehen wir, wie vielschichtig und kompliziert die Deutung einer Wahl ist. Tatsächlich ist die CDU/CSU am Sonntag hinter ihrem strukturellen Anspruch zurückgeblieben.

Was bedeutet?

Pilz: Die Union ist die strukturelle Mehrheitspartei in Deutschland, sie hat in Gesamtdeutschland ein höheres Potential, als die 38,5 Prozent, die sie vergangenen Sonntag auf sich vereinigen konnte. Insofern ist ihr Gewinn, zwar ein Gewinn, aber dennoch enttäuschend. Der selbstsichere Jubel Edmund Stoibers war also zweifellos unangemessen, allerdings kann man ihm dafür wohl keinen Vorwurf machen, wurden wir doch alle von den ersten Hochrechnungen auf eine falsche Fährte geführt.

Die Union befand sich nach der Spendenaffäre im Frühjahr 2000 in einer tiefen Depression. Daher empfinden die Parteianhänger verständlicherweise diese strukturelle Niederlage als einen Sieg. Für den Wähler zählt aber nicht der Sitzanteil im Bundestag, sondern allein die Politik. Und die wird nun weiter von Rot-Grün gemacht. Deshalb die Frage nach den Ursachen dieser Niederlage.

Pilz: Stoiber hat nach meiner Einschätzung mit der Strategie, die politische Mitte zu besetzen, bestimmte konservative Wähler nicht mobilisieren können. Das hat die Union wohl bis zu drei Prozent gekostet.

Hätte Stoiber aber nicht durch ein stärkeres Engagement nach Rechts wiederum Wähler der Mitte vergrault?

Pilz: Das ist die Frage, auf die niemand eine endgültige Antwort zu geben vermag. Tatsache aber ist, daß man Rechts Prozente hat brachliegen lassen. Und dieser Fehler geht zurück auf Analysen, wie zum Beispiel die der Kollegen Lösche und Raschke, die vor Wochen festgestellt haben, die Union hätte ihr Wählerpotential bereits ausgeschöpft, sowie die Strategie des Herrn Spreng, weitere Prozente demzufolge in der Mitte zu werben. Das Ganze war von Anfang an ein Risikospiel. Am Ende gelang es weder, die Mitte in ausreichendem Maße zu gewinnen, noch die Rechtskonservativen alle zu halten. Im Saldo halte ich Spreng für wenig erfolgreich.

Welche Fehler gab es bei der Auswahl der Wahlkampfthemen und ihrer Vermittlung?

Pilz: Stoiber hat den Fehler gemacht, allein auf eine sogenannte "negative Kampagne" zu setzen, also nur den Gegner anzugreifen und es zu versäumen, einen eigenen positiven Leitbegriff zu lancieren. Aber man wollte eben auf eine Polarisierung verzichten. Insofern sehe ich auch hier einen schweren, durch den Spreng-Kurs verursachten Fehler. Ihren Wahlkampf der Sachkompetenz hätte die Union unbedingt durch eine Wertediskussion flankieren müssen.

War es nicht ein Fehler, allein mit Themen in die Offensive zu gehen, bei denen auch der SPD ein hohes Maß an Kompetenz zugebilligt wird? Hätte man also nicht auch "hauseigene" Themen, wie etwa die Zuwanderung, in den Mittelpunkt stellen müssen?

Pilz: Das ist richtig, beim Thema Arbeitslosigkeit wurde zwar der Union stets ein Kompetenzvorsprung vom Wähler zugeschrieben, der war allerdings gegenüber dem, was der SPD zugebilligt wurde, nicht allzu groß. Und beim Thema Wirtschaft haben wir alle gesehen, wie die SPD in den letzten Wochen aufgeholt hat. Das wäre natürlich bei einem Thema wie etwa der Zuwanderung so nicht möglich gewesen. Allerdings ist die Frage, ob das in der Partei mehrheitsfähig gewesen wäre.

Die SPD operiert deshalb mit einem Koalitionspartner, der auch Meinungen in Stimmen für die Koalition umwandeln kann, die in der SPD selbst keinen Platz haben. Warum hat die Union diese Strategie noch nicht begriffen und versucht weiterhin, alles unter einen Hut zu bringen, was zu offensichtlich zu einer verhängnisvollen Selbstlähmung führt?

Pilz: Die Frage ist berechtigt und ich gehe davon aus, daß in der Union nach dieser Niederlage auch ein Nachdenken einsetzt.

Die SPD stellt dagegen zwar den Kanzler, gilt aber gemäß der Wahlarithmetik als Verlierer. Zu Recht?

Pilz: Die SPD liegt traditionell bei knapp unter 40 Prozent. Schröder hat also ein solides SPD-Ergebnis eingefahren. Trotz der Verluste ist das keine Niederlage, wie am Wahlabend von verschiedenen Kommentatoren behauptet wurde. 1998 hat die SPD von der Wechselstimmung profitiert und etwa 41 Prozent erreicht. Es war klar, daß dies keine echten SPD-Stimmen waren. Jetzt sind sie natürlich weggefallen. Die SPD hat aber dennoch, mit 38,5 Prozent, ihren strukturellen Anspruch erfüllt.

Überrascht hat das Ergebnis der Grünen.

Pilz: Die Grünen möchte ich unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten als die wahren Gewinner der Wahl bezeichnen, weil sie ein Ergebnis erzielt haben, das über ihrem strukturellen Potential liegt. Sie haben dank ihrer Umweltkompetenz von der Elbeflut in hohem Maße profitiert und ebenso vom Friedenskurs des Kanzlers. Der hat sich diesbezüglich stark und damit das Problem zum Thema gemacht, profitiert haben davon aber am meisten die Grünen, weil ihnen hier traditionell die höchste Kompetenz zugemessen wird.

Der Konkurrent der Grünen, die FDP, hat dagegen erstaunlich schlecht abgeschnitten. Schuld ist angeblich Jürgen W. Möllemann. Klingt das nicht etwas fadenscheinig?

Pilz: Möllemann mag das Ergebnis geringfügig beeinflußt haben, entscheidend für das schwache Abschneiden war sein Israelkritischer Kurs aber gewiß nicht, eher der Streit darum. Entscheidend war dagegen der radikal neoliberale Kurs der Partei. Die Vorschläge der FDP klingen schick, machen aber die Menschen in Deutschland mißtrauisch. In der Frage des grundsätzlichen Erhalts unserer traditionellen sozialen Sicherungssysteme gibt es nämlich unter den Deutschen, links wie rechts, eine hohe und dauerhafte Zustimmung.

Die PDS hat einen Wiedereinzug als Partei verfehlt. Ist das der Anfang vom Ende der PDS?

Pilz: Nein. Die Elbflut, der Friedenskurs des Kanzlers und die tiefreichenden Vorbehalte gegenüber dem Bayern Edmund Stoiber und seiner CSU haben der SPD zahlreiche ehemalige PDS-Wähler zugetrieben. Das war eine ganz entscheidende Wählerwanderung. Spätestens aber wenn die potentiellen PDS-Wähler von der Politik der Bundesregierung enttäuscht sind, weil der Aufbau Ost wieder nicht in Schwung kommt, werden sie zur PDS zurückkehren. Die PDS wurde schon einmal totgesagt, vergessen wird aber, daß sie über eine solide Basis verfügt.

Völlig überraschend ist das extrem schlechte Abschneiden der Schill-Partei, die nicht an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist, sondern mit 0,8 Prozent vom Wähler quasi völlig ignoriert wurde.

Pilz: In der Bundesrepublik Deutschland sind bislang alle bürgerlichen oder rechten Protestparteien auf Bundesebene gescheitert. Sie funktionieren in der Regel, wenn überhaupt, nur auf regionaler oder Landesebene. NPD, DVU, Republikaner oder Stattpartei haben alle nur regionale Erfolge. Ebenso nun Schill.

Das ist aber doch kein Gesetz?

Pilz: Das lehrt aber die Erfahrung, die Bürger bewerten auf Bundesebene einfach anders als auf Landes- oder Regionalebene.

Also ist Schill am Ende?

Pilz: Das glaube ich nicht. Natürlich wird es nun sehr schwer für die Partei, aber auf regionaler oder Landesebene kann sie durchaus noch Erfolge erzielen. Ob die Schill-Partei allerdings ein dauerhaftes Phänomen bleiben wird, ist wieder eine andere Frage.

Ist die Schill-Partei ein möglicher Koalitionspartner für die Union?

Pilz: Mittelfristig ist das nicht auszuschließen. Die Frage ist, ob die Union endlich begreift, daß sich die politischen Strukturen verändert haben und die herkömmlichen Rezepte nicht mehr zu den bisherigen Erfolgen führen. Es müssen neue Strategien gefunden werden. Ich halte es für irrational, wenn die Union sich dieser Einsicht auch in Zukunft verschließt.

 

Priv.-Doz. Dr. Frank Pilz lehrt Politikwissenschaft an der Universität Regensburg und der Hochschule für Politik in München. Forschungsschwerpunkt des Politologen ist das System der Bundesrepublik Deutschland. Geboren 1950 in Warnsdorf / Oberlausitz, studierte er nach der Flucht der Familie 1961 nach Süddeutschland Politikwissenschaft und Volkswirtschaft. Jüngste Veröffentlichungen: "Das politische System Deutschlands" (Oldenburg, 2000), "Globalisierung und Sozialstaat" (Olzog, 2002).

 

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