© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Zweierlei Maß
Carl Gustaf Ströhm

Aus Estland flatterte ein Brief auf meinen Tisch: eine alte Dame, die während der Sowjetherrschaft viele Jahre im sibirischen Gulag verbringen mußte und wie durch ein Wunder überlebte, schilderte die nicht einfache politisch-psychologische Situation der nördlichsten Baltenrepublik.

Bisher galt Estland im Westen als Musterschüler, jetzt aber wurden die Esten - dazu noch offiziell, durch den US-Botschafter in Tallinn (Reval) - beschuldigt, ihre Beteiligung am Holocaust nicht zu verarbeiten. Dazu die Briefschreiberin: "Die USA-Botschaft hat jedoch die Abertausende von Opfern der Sowjets unter den Esten nicht einmal erwähnt. Sind das Opfer zweiter Klasse?"

Auf die Tatsache, daß die estnische Regierung schließlich unter starkem äußeren Druck den 27. Januar - an dem 1945 Auschwitz durch die Sowjetarmee befreit wurde - zum Gedenktag erhob, reagierte die alte Dame mit der Feststellung: "Wer weiß, ob unter den Befreiern nicht Rotarmisten waren, die ein paar Jahre zuvor in Katyn die polnischen Offiziere ermordet haben?"

Viele Esten, die 1991 nach dem Ende der sowjetischen Fremdherrschaft vom Westen begeistert waren, fühlen sich heute von diesem Westen mißverstanden, unter Druck gesetzt und - im Verein mit dem großen russischen Bären - sogar in die Zange genommen. Obwohl die russische Minderheit in Estland weitgehende Rechte genießt, treten einige ihrer Exponenten mit immer neuen Forderungen hervor. Synchron zur offiziellen Moskauer Politik treiben sie die Esten gewissermaßen vor sich her.

So meldete sich dieser Tage der estnische "Verband der Veteranen" (der Sowjetarmee) zu Wort und forderte die Tallinner Regierung auf, ihre "antirussischen Maßnahmen" einzustellen. Anlaß ist ein vom estnischen Parlament am 18. Juni beschlossenes Dokument "über die Verbrechen des (sowjetischen) Besatzungsregimes". Außerdem protestieren die Sowjet-Veteranen gegen mehrere Gerichtsverfahren, die gegen überlebende Funktionäre des sowjetischen Sicherheitsapparats angestrengt werden. Die Angeklagten - unter ihnen ein "Operativbevollmächtigter" der sowjetischen "Stasi", Juriji Karpow, stehen wegen Beteiligung an Massendeportationen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht. Solche Prozesse gegen hochbetagte Angeklagte würden nur Konfliktstoff zwischen den beiden estnischen Volksgruppen anhäufen, erklären die Ex-Sowjetarmisten.

Hier wird mit zweierlei Maß gemessen: denn zugleich fordern die Sowjetveteranen, die "Rehabilitierung" der estnischen Waffen-SS-Soldaten zu unterlassen. So geraten viele Esten in eine Zwickmühle: die estnischen Soldaten, die in deutschen Uniformen im Zweiten Weltkrieg an der Narwa-Front gegen die Sowjets kämpften, gelten im Volk als Freiheitskämpfer und Verteidiger des Landes gegen die drohende Sowjet-Herrschaft. Weil sie aber - nicht freiwillig, sondern gezwungen - Waffen-SS-Uniformen trugen, werden sie im meist verständnislosen Westen mit Holocaust-Mördern gleichgesetzt, mit denen sie nichts zu tun hatten.

Die estnischen Politiker beginnen, Konzessionen an die political correctness zu machen, weil ihnen nicht anderes übrig bleibt. Die schönen ersten Jahre der Freiheit sind vorbei. Vielen Esten stellt sich die Frage: Wie souverän und wirklich "frei" kann ihr kleines Land sein - inmitten großer Mächte, die wie die USA ihre eigenen Interessen verfolgen, oder wie die EU mit einem Auge auf Moskau schielen - oder wie die russischen Nachbarn, den Verlust des Fensters zur Ostsee nicht überwunden haben?


 
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