© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002

 
Kulturelle Leerstellen
Künftige Kulturdebatten müssen an mehreren Fronten geführt werden
Doris Neujahr

Zwar hat die Kulturpolitik im Wahlkampf keine Rolle gespielt, doch das Amt des Kulturstaatsministers wird bleiben. Als es 1998 im Kanzleramt eingerichtet wurde, wurde das als eine schillernde Facette in Schröders Image-Politik angesehen. Auch die Opposition konnte es sich anders nicht vorstellen. Der bayerische Kultusminister Zehetmayer sprach spöttisch vom "Blattgold an der Berliner Pickelhaube". Doch das Amt hat ein Eigengewicht gewonnen.

Dieses Gewicht läßt sich nicht aus den mageren Erfolgen der Amtsinhaber und ihren politischen und persönlichen Qualitäten erklären. Ein kompetenter und engagierter Ministerialrat im Innenministerium hätte Vergleichbares erreichen können. Vielmehr ist ein allgemeines Problembewußtsein dafür entstanden, daß Kultur und Kulturpolitik mehr sind als nur die Spielwiese abgehobener Geister. Auf diesem Gebiet werden zentrale Fragen der Gesellschaft verhandelt und langfristig entschieden.

Es soll hier weder ein Kulturbegriff noch die alte Frage nach dem Verhältnis zwischen Kultur und Zivilisation diskutiert werden. Man kann aber festhalten, daß Gemeinschaften, also auch Völker, durch distinktive Fähigkeiten, Vorlieben, Bedürfnisse, Gewohnheiten, Erfahrungen gekennzeichnet sind, die vom Begriff des Gesellschaftsvertrages nicht erfaßt werden. Das staatliche Zusammenleben läßt sich nicht ausschließlich durch verfassungspatriotisches Gesetzeswerk bestimmen, denn dieses funktioniert nur auf der Grundlage eines stillschweigenden, allgemeineren Konsenses, der von ihm nicht erschaffen werden kann. Demokratie und Menschenrechte haben - von Japan abgesehen - bisher nur im christlich-abendländischen Kulturkeis überzeugend Fuß gefaßt. Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen" strotzt von Vergröberungen und plakativen Zuschreibungen, doch es ist sein Verdienst, eine breite Diskussion über die Bedeutung kultureller Gemeinsamkeiten und Unterschiede für das politische und staatliche Zusammenleben angestoßen zu haben.

Kultur war und ist permanenter Entwicklung unterworfen. Heute aber haben Globalisierung, Wanderungsbewegungen und demographische Prozesse den Veränderungen ein Tempo verliehen, das die Möglichkeiten der Politik generell in Frage stellt und zugleich die kulturellen Grundlagen unterspült. In dem emphatischen Modernisierungsvokabular, mit dem diese Vorgänge beschrieben werden, offenbart sich in Wahrheit tiefe Ratlosigkeit.

Politischer und kultureller Nihilismus drohen sich gegenseitig zu einem besinnungslosen Chaos hochzuschaukeln. Andererseits begreifen die Menschen, daß ihre kulturellen Symbole, Rituale und Gewohnheiten der Pflege bedürfen und gerade darin eine Aufgabe künftiger Politik liegt.

Der 3. Oktober erinnert die Deutschen daran, daß die 40jährige Teilung des Landes in konträre Gesellschaftssysteme ihre gemeinsame Kulturnation nicht eleminieren konnte. Die DDR war ja der Versuch, einen Staat aus dem Nichts, aus dem puren Willen zur Macht, zu erschaffen. Wegen ihrer künstlichen Voraussetzungen konnte sie sich nur auf einen amputierten, ideologisierten Kulturbegriff stützen. Jede freie Beschäftigung mit den Symbolen, Figuren und - in dem Mauerstaat besonders wichtig - sinnreichen Orten deutscher Kultur war ein Angriff auf ihre Existenz. Andererseits war ihr offizielles, ideologiedurchtränktes Kulturfundament für einen identifikatorischen Konsens viel zu brüchig.

Natürlich blieb die Kulturnation von der Teilung nicht unberührt. Im Westen wurde die Zweistaatlichkeit komfortabler, allmählich mit Gleichgültigkeit und - gerade von Teilen der kulturellen Elite - in einem Zustand masochistischer Amnesie erlebt. Und trotzdem vollzog sich, als die Mauer gefallen war, die Wiedervereinigung mit der Kraft eines Naturereignisses.

Dieses ist nur durch die Wirksamkeit kultureller und geschichtlich tradierter Gemeinsamkeiten verständlich. Danach wurde von besagter Elite in einem Abwehrreflex die Kulturnation als Raum kollektiver Imagination und Kommunikation unter Verdacht gestellt. In der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit hob Jörg Lau kürzlich nochmals die "Modernität" der alten BRD hervor, "die ohne solchen inneren Zusammenhalt auszukommen gelernt hat".

Eine naive Annahme! Wenn schon, dann wird Deutschland nicht durch Diskurse, sondern durch Geld befriedet. Multikulturelle Konflikte sind bisher nur deshalb nicht zur Explosion gekommen, weil sie durch finanzielle Zuwendungen ruhiggestellt worden sind. Doch die deutsche Wohlstandsmaschine stottert, und die Bürger sind zu verzagt, um die nötigen Reparaturen daran vorzunehmen. Könnte dieses fehlende Zutrauen nicht mit kulturellen Leerstellen zu tun haben, mit der Negation eines positiven Bezugrahmens, aus dem sich der Glaube an die eigene Kraft schöpfen ließe?

Laus Verteidigung der "modernen" BRD-Kulturpolitik ist im übrigen verlogen, weil diese aus ihren eigenen, identitätsstiftenden Absichten nie einen Hehl gemacht hat. Hans Haackes Agitprop-Installation im Reichstag ("Der Bevölkerung") funktioniert ja nur als Fortschreibung antifaschistischer und Post-68er-Volkspädagogik. Drittklassige Künstler wie Haacke mögen auch künftig produzieren, was sie wollen, nur muß man ihnen dafür nicht das Höchste Haus der Republik zur Verfügung stellen.

In Deutschland wird der ererbte Kulturföderalismus nach wie vor als Kronjuwel des Verfassungsrechts gefeiert. Um ihn nicht zu konterkarieren, wurde die neue, dringend benötigte Bundeskulturstiftung nach Halle a. d. Saale, weit weg vom politischen Entscheidungszentrum, verbannt. Ihr Etat von 25 Millionen Euro ist angesichts der anstehenden Aufgaben ein Witz.

In der Praxis ist der Kulturföderalismus weitgehend eine Farce, der zu Stillstand und Hinterwäldlertum führt. Nur ausreichend große und wohhabende Bundesländer wie Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen können ihn überhaupt mit Leben erfüllen. Berlin und Brandenburg sind mit ihrem preußischen Schlösser- und Museumserbe heillos überfordert, und selbst die Kultursenatorin der reichen Hansestadt Hamburg, Dana Horáková, beschied die ihr unterstellten Kulturinstitutionen, sie sei keine Gelddruckmaschine.

Über die kulturpolitischen Möglichkeiten der neuen Ländern muß man gar nicht erst reden. Noch die Förderung des Films, des populärsten künstlerischen Mediums, orientiert sich an den innerdeutschen Provinzgrenzen. An diesem Beispiel wird der Zusammenhang zwischen politischem und kulturellem Provinzialismus augenfällig.

Die kurze Aufzählung zeigt, daß die Kulturdebatten künftig an mehreren Fronten geführt werden müssen. Wen jetzt die Aussicht erschreckt, sich eines Tages nur noch mit einer Browning sichern zu können, muß jetzt die Argumente und den Tonfall verschärfen.


 
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