© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002

 
Schmelztiegel an der Oder
Breslaus Stadtgeschichte aus einer eigenwilligen britischen Perspektive
Matthias Bäkermann

Über die Geschichte Breslaus hat der englische Historiker Norman Davies eine Auftragsarbeit verfaßt. Der Stadtpräsident der nach 1945 Wroclaw getauften Odermetropole war vor einigen Jahren an den Londoner Fachmann für polnische Geschichte herangetreten, um zwecks Förderung der "deutsch-polnischen Aussöhnung" einen "neutralen" Chronisten zu gewinnen.

Da Davies nicht gerade als Kenner der preußisch-deutschen Geschichte ausgewiesen ist, welche aber, wie er eingangs einräumt, die Geschicke Breslaus "über Jahrhunderte hinweg" bestimmte, reagierte er wohl zu Recht "zunächst zurückhaltend". Erst mit Unterstützung des jungen Roger Moorhouse, der sich auf die deutschen Quellen konzentrierte, habe er sich dann an das Unternehmen gewagt, Breslaus Entwicklung von fast prähistorischen Anfängen bis zur polnischen Annexion Schlesiens und seiner Hauptstadt zu schildern.

Das dickleibige Resultat britischer Anstrengungen, zugleich auf englisch, deutsch und polnisch veröffentlicht, legt man mit sehr gemischten Gefühlen aus der Hand. Denn - alles in allem -: leider sind Davies und Moorhouse doch nicht "neutral". Dafür streben sie zu eifrig danach, den deutschen Anteil an Breslaus Historie zu minimieren. Das setzt schon mit der eigenwilligen, um nicht zu sagen falschen Namensgebung ein, derzufolge von Breslau erst ab 1770 "durchgehend" gesprochen worden sei. Zuvor, seit 1526, habe die Stadt "Presslaw" geheißen, zur Habsburger Monarchie gehört und, so suggeriert der Text, sei von einer deutsch-polnischen Bevölkerung bewohnt worden. Den ethnisch "gemischten" Charakter versuchen beide Historiker auch der "Wretslawer", also der böhmischen Herrschaftsperiode zwischen 1335 und 1526, zu implantieren. Selbst für das 19. Jahrhundert will man den Eindruck vom Breslauer "Schmelztiegel" suggerieren, um dann doch kleinlaut einzuräumen: Der Anteil nicht deutsch sprechender Juden erreichte bis 1933 "niemals auch nur zwei Prozent", und der polnische Anteil, der tatsächlich kaum höher lag, sei zumindest "sehr schwer einzuschätzen".

Ungeachtet solcher vorsichtigen Urteile, die ihre eigenen, "multikulturell" eingefärbten Arbeitshypothesen konterkarieren, verharren Davies und Moorhouse im Bann ihres Konzepts von der "mitteleuropäischen Stadt" Breslau, das zwar jede polnische Geschichtsklitterung von den "wiedergewonnenen Gebieten" ad absurdum führt, das aber auch gegen eine angeblich "deutschnationale Usurpation" Breslauer Vergangenheit gerichtet ist. Vor lauter Furcht, vor allem für das 19. und 20. Jahrhundert eine allzu "homogene deutsche Kultur" zu präsentieren, hangeln sich die beiden Briten ziellos durch den selbstgepflanzten Namen- und Datendschungel, erwähnen hier die bedeutendsten "Vratislavier", zählen dort die Zustände in den Elendsquartieren auf oder widmen sich den Anfängen der Breslauer Straßenbahn. Kräftige Fehlgriffe bleiben da nicht aus, wie etwa die Angabe, nach 1890 habe Breslau bedeutende Gelehrte wie (den bereits 1858 von der Oder an die Spree gewechselten) Theodor Mommsen angezogen, oder Gerhart Hauptmann sei "für viele der wichtigste deutsche Dramatiker des 19. Jahrhunderts". An anderer Stelle fragt sich der Leser, seit wann Friedrich der Große als "flüchtiger Eroberer" Schlesiens bekannt geworden ist? Noch besser: Vor 1933 sei im Kino die "Ära von Fritz Lang, G. W. Pabst und einer Kristina Söderbaum" (deren Leinwanddebüt fand bekanntlich 1936 statt) angebrochen.

Immerhin mag mancher Leser geneigt sein, als Ausgleich für diese zahlreichen Verirrungen zu akzeptieren, was die beiden Insulaner an politischen Unkorrektheiten einstreuen: So ihr Hieb gegen die eifrig Geschichtsentsorgung betreibenden deutschen Kollegen, die nach 1945 "Breslau aus allen bedeutenden Untersuchungen über die Vergangenheit ihres Landes wegretuschierten". Nicht opportun ist sicher auch die Feststellung, der Dresdner Feuersturm habe "Opfer in derselben Größenordnung wie die Atombombe auf Hiroshima" gefordert. Bemerkenswert schließlich ihr ganz und gar anstößiger Vergleich, Stalin sei "in Regionen des Totalitarismus vorgedrungen, die Hitler niemals erreichen sollte". Diese scharf antisowjetische Position ist bei Davies und Moorhouse gefestigt genug, um die Greueltaten der Roten Armee bei der Eroberung der "Festung Breslau" beim Namen zu nennen, wobei sie zuvor recht unkonventionell-nachsichtig die an der Ostfront auf "feste Plätze" fixierte Hitlersche Strategie beurteilen. Und selbst ihre selten unterdrückte Polonophilie tritt zurück, wo es gilt, die Leidenszeit der Deutschen in Breslau bis zum Sommer 1947 und das noch bis in die sechziger Jahre währende ökonomische und administrative Desaster der in brutalster Manier vollzogenen völkerrechtlichen polnischen Landnahme schonungslos offenzulegen.

Da deutsche Historiker beim "Wegretuschieren" so erfolgreich waren, daß für Stettin, Danzig und eben auch Breslau uns heute keine mit Fritz Gauses großer "Geschichte der Stadt Königsberg" (1969/71) vergleichbare Darstellung zur Verfügung steht, muß man den beiden Briten für diese umfangreiche und leicht lesbare Darstellung dankbar sein, die, wenn man alle ihre "multikulturellen" Eintrübungen souverän ignoriert, getrost als Beitrag zur Geschichte des deutschen Ostens gelesen werden darf. Matthias Bäkermann

Norman Davies/ Roger Moorhouse: Die Blume Europas. Breslau - Wroclaw - Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. Droemer Verlag, München 2002, 702 Seiten, Abbildungen, Karten, 38 Euro


 
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