© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002


Auferstehung des Pädagogen
von Rolf Stolz

Es gibt einzelne Punkte, wo selbst die vielgeschmähten einstigen Zwergschulen, Ordinarienuniversitäten und Lehranstalten für höhere Töchter den Absurditäten aus dem pädagogischen Reform-Haus überlegen sind. Das Aburteilen durch Zensuren, das Aussieben von Zeugnis zu Zeugnis hat letztlich immer noch mehr Sinn gehabt und war (als eine wenn auch oft falsche, aber immerhin eindeutige Rückmeldung) menschlich anständiger als das blinde Schulterklopfen durch hochgestapelte Positivzensuren oder der Unfug, auf jede Bewertungsaussage verzichten zu wollen. Statt der unangebrachten Milde, statt der Tendenz zur oberen Mitte und zum massenhaft verschenkten und dadurch immer wertloseren Abiturzeugnis muß es Leistungsbeurteilungen geben, die ehrlich und nachvollziehbar sind, die Leistung belohnen und Leistungsverweigerung bestrafen oder Unfähigkeit attestieren. Aber auch hier geht es um andere Bewertungsmaßstäbe und andere Bewertungsmethoden, als in den Schulen heute üblich sind und gestern üblich waren. Es ist erforderlich, jede Leistung doppelt zu bewerten - als Einzelleistung des Individuums und als Beitrag zur Gruppenleistung. Der einzelne soll sich weder hinter der Gruppe verstecken können, noch in ihr untergehen und in seiner persönlichen Anstrengung eingeebnet werden. Weder der egoistische Einzelkämpfer noch der eigenschaftslose Mitläufer dürfen bestärkt werden.

Je mehr die Pädagogen die Anforderungen gesenkt haben, um so weniger haben sie erreicht, und um so mehr hat das subjektive Gefühl der Überlastung, des Nicht-mehr-Aushalten-Könnens, der Frustration zugenommen. Überforderung durch Unterforderung, seelische Mißhandlung durch Laufenlassen und Schlendrian - das ist die kurzgefaßte Diagnose dieser gesellschaftlichen Erkrankung, die seuchenartig um sich greift. Eine neue Schule würde allerdings sehr hohe Anforderungen an die Schüler stellen, würde Leistungswillen und Lernwillen betonen, würde Laschheit und Herumgammeln bestrafen und ächten. Aber diese Dinge würden nicht von der Staatsgewalt und bigotten Lehramtsinhabern ausgehen, sondern aus dem natürlichen Selbstverwirklichungsdrang des einzelnen und aus dem Selbstbehauptungswillen des Kollektivs hervorwachsen. Man sollte sich hüten, schematische und abstrakte Modelle am grünen Tisch zu entwerfen. Aber es spricht vieles dafür, jede Klasse zu unterteilen in stabile und ausgewogene Gruppen von vier bis fünf Schülern, in denen die Führungsverantwortlichkeit zwischen den Gruppenmitgliedern wechselt und jeder für jeden verantwortlich ist, um gemeinsam das zu erreichen, was jedem einzelnen und der Gruppe möglich ist.

Es muß ein Ende haben mit dem Schwindel der "Oberstufenreform", die mit Wahlfreiheit lockt und doch nur die Wahl läßt zwischen Halbwissen und Totalverblödung. Jene Abstrusitäten, daß Schüler Fachkombinationen wählen je nach den Auswirkungen der Zensur im Abschlußzeugnis, nach intellektueller Bequemlichkeit oder danach, wie nett der Lehrer ist, erzeugen allenfalls noch ein (falsches) Gefühl von Wahlfreiheit (oft nicht einmal das), aber sie sorgen dafür, daß am Ende eine Mehrheit von unwissenden, halbgebildeten, desorientierten und gut beherrschbaren Kleinbürger-Barbaren herangezüchtet wird. Es darf kein Abwählen des Schwierigen, Anspruchsvollen, Herausfordernden mehr geben.

Frei zu wählen ist nur dort sinnvoll, wo ein Erwachsener (und das Erwachsensein beginnt nur auf dem Papier und in der Phantasie der Juristen am achtzehnten Geburtstag, real eher mit zwanzig oder einundzwanzig Jahren) sich entscheidet über seinen mehr oder weniger definitiven Lebensweg. Einen Jugendlichen sollte man entscheiden lassen, welche zusätzlichen Angebote er nutzt - also über all das, was keine essentielle Bedeutung hat für seine Ausbildung und für seine Entwicklung zu einem nicht nur formal gleichberechtigten, sondern real zu Verstehen und Einflußnahme fähigen Mitglied der Gesellschaft.

Was ist ein Minimum, das von jedem Schüler erwartet werden muß? Ohne Vollständigkeit anzustreben, scheinen es im wesentlichen diese Dinge zu sein: erstens, deutsche Sprache und Literatur, also "Wert und Ehre der deutschen Sprache" in allen ihren Aspekten, in freier und gebundener Gestaltung, in Rechtschreibung und grammatischer Struktur, in Sprachgeschichte, regionaler und sozialer Verschiedenheit; zweitens, ein Grundkurs des Lateinischen und Altgriechischen in der 5. und 6. Klasse, um den formalen Aufbau, die Logik und Bestimmtheit der Sprache an ihrem klassischen Beispiel nachzuvollziehen; drittens, die Beherrschung des Englischen als moderne lingua franca (Unterricht ab der 7. Klasse).

Viertens, die Beherrschung des Englischen als moderne lingua franca (Unterricht ab der 7. Klasse); fünftens, die Pflicht, eine zweite Fremdsprache für den mittleren und eine dritte Fremdsprache für einen höheren Abschluß zu erlernen (Voraussetzung: ein ausreichendes, flächendeckendes Angebot in den WeltsprachenFranzösisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Arabisch und Chinesisch; gezieltes Angebot von "Nachbarsprachen" wie Holländisch oder Tschechisch in den Grenzregionen. Neben Deutsch und den Fremdsprachen als weitere Hauptfächer Mathematik, Elektronik/Technologie, Geschichte/Politik, Gestaltung/Musik, Sport (von der 5. bis zur 13. Klasse durchgängig mit mindestens drei Wochenstunden); als unverzichtbare Nebenfächer mit mindestens drei Jahren Unterricht: Philosophie, Physik/Astronomie, Chemie, Biologie/Ökologie, Geographie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften; Pflichtkurse in gesellschaftlich nützlichen oder notwendigen Dingen (Erste Hilfe/Basismedizin, EDV, ökologisch bewußtes Verhalten, Lern- und Entspannungstechniken, Rhetorik).

Daß eine solche Ausbildung den Schülern und den Lehrern Zeit und Arbeit abverlangt, liegt auf der Hand. Daß viel mehr Lehrer als bisher erforderlich sind, daß diese Lehrer an sechs Tagen 40 Stunden wöchentlich arbeiten müßten, daß die Schüler 36 bis 38 Unterrichtsstunden pro Woche hätten, sollte nicht verschwiegen werden. Für die Gesellschaft wie für den einzelnen geht es hier um die Entscheidung, viel Kraft zu investieren in eine Zukunft oder aber sich mit halber Kraft ganz gemütlich in den Ruin treiben zu lassen. Das neue Jahrhundert wird dominiert werden von Staaten, die aus tradiertem Volkswissen und dynamisierter Wissenschaft ihre Macht und ihre politische Mission legitimieren.

Eine Bewegung, die beginnen will, die seit Jahrtausenden etablierte Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeitern, Vordenkern und ausführenden Organen, schöpferischen Künstlern und impotenten Kunstkonsumenten aufzuheben, kann sich nicht damit abfinden, daß die Kunst in allen Bereichen - ob als "Kunst am Bau" oder als Randfach in der Schule - nur als dekoratives Feigenblatt benutzt wird, um die allgemeine Blöße kultureller Nullität abzudecken. Es geht darum, einen sozialen Prozeß in Gang zu setzen, in dem irgendwann der, der nicht zeichnen kann oder keine Geschichte schreiben kann, so betrachtet werden wird, wie heute der Analphabet: mit etwas Mitleid und etwas Verachtung. (Natürlich geht es hier um das Handwerkliche und um das notwendige Zutrauen. Das Genie ist nicht zu erzeugen oder herbeizuzwingen, aber erstens benötigt auch das Genie handwerkliche Fähigkeiten, und zweitens würden in solch einer kulturrevolutionären Bewegung bestimmt einige werdende Dichter ihre Sprache finden und ihr Werk nicht länger für sich und die Leichenwürmer behalten.)

Da die Kunst nichts so sehr benötigt wie Freiheit, könnte sie nur in lockerer Assoziation mit der Schule, in zwanglosen, spielerischen Formen ohne Tändelei und ohne akademische Erstarrung, in engster Zusammenarbeit mit freien Künstlern, mit Theater usw. vermittelt werden - nicht als "Kunst-Unterricht", sondern als Verlockung. Dazu wäre es vernünftig, von allen künstlerischen Ausdrucksformen in einem Gesamtüberblick das Nötigste kennenzulernen und sich dann selbst zu entscheiden, in was man sich hineinstürzt.

Die dumpfe Feindschaft gegenüber den Naturwissenschaften und der Technik, die stumpfe Gleichgültigkeit gegenüber der Mathematik sind vielfach verständlich angesichts der Rolle, die diese gar nicht immer so reinen Wissenschaften unter wirtschaftlichen Vorzeichen bei der permanenten Verwüstung der Welt und der Vorbereitung des Weltuntergangs spielen. Das unreflektierte, unkritische Sich-Verweigern mag gelegentlich Sand im Getriebe der technokratischen Verplanung sein, aber selbst dieses gilt nur äußerst eingeschränkt. Schon um der blind zerstörenden Flut einer wachstumsfetischisten Technisierung entkommen und sich dagegen wehren zu können, muß man diese Flut analysieren können. Erst recht sind Wissen und Verstehen gefragt, wenn es um machbare Utopien, um Heilung der todkranken Mutter Erde und um heute oder morgen realistische Alternativstrategien geht. Der Entschluß, den Selbstmordplan zu verlassen, ist eine Sache des Denkens, massenpsychologischer Faktoren und der Politik. Aber wenn dieser Entschluß erst einmal gefaßt ist, kommen die tausend Sach- und Fachfragen hoch, die zum entscheidenden Teil nur wissenschaftlich oder technisch lösbar sind. Theoretiker und die berüchtigten Praktiker der Politik können vielleicht den Benzinmotor verbieten. Aber effektive Elektroautos werden nicht in Amtsstuben oder Philosophenklausen entwickelt und gebaut. Statt den Atombombenbastlern, Fliegenbeinzählern und Technikknarren das Feld zu überlassen, müssen wir eine kritische und bewußte Begeisterung für eine andere Naturwissenschaft und eine humane Technik wecken - für eine Technik, für die das Überleben des Menschen und der Natur das Maß aller Dinge ist, für eine Naturwissenschaft, die um die Gefährdung und die Selbstrettungsmechanismen der Natur weiß und dem Menschen hilft, in Frieden mit einer unzerstörten Natur zu leben.

Das Englische ist einerseits die gegenwärtig unverzichtbare Welt-Gemeinschaftssprache geworden, andererseits ist die Sprache Shakespeares und Ezra Pounds auch das Medium, mit dem die USA (das halbe Kanada und das klein gewordene Großbritannien im Schlepptau) versuchen, die Welt kulturell und ideologisch zu amerikanisieren, um sie ökonomisch und politisch beherrschen zu können. So unsinnig es wäre, das Englische ins Abseits verbannen zu wollen, so notwendig ist es auch, Gegengewichte zu schaffen gegen die Suprematie der Händler- und Militärsprache. Dies ist eine Aufgabe, die sich für ganz Europa stellt. Statt Italienisch für die Oper und Neugriechisch für den Strand zu lernen, ist es notwendig, daß jene Sprachen beherrscht werden, die Brücken in die Welt hinausschlagen, über Kleineuropa hinaus nach Osten zum größten Land dieses Kontinents, über die Meere zu den Menschen der Dritten Welt.

In einer Gesellschaft, in der psychosomatische Krankheiten aller Art, körperlich-seelische Verspanntheit, Herzneurosen, Bewegungs- und Antriebsarmut endemischen Charakter annehmen, wo Spielautomaten, Autofahren und Geldverdienen täglich den Egoismus eintrainieren, gibt es mehr als genug Gründe, aus dem Sport eine wichtige Sache zu machen.

Es ist eines der linksliberalen Dogmen, daß Sport das hinterletzte Nebenfach und ansonsten eine Freizeitsache der wenigen Aktiven zu sein habe. Es ist sicher provozierend (nicht nur für die Oberbuchhalter des Staates, die an die Kosten neuer Sportplätze denken, und für gewisse verkalkte Intelligenzler, die aus ihrer eigenen Unfähigkeit eine Doktrin machen und unbemerkt immer noch in den miesen Traditionen der Leibverteufelung stecken), wenn wir ganz nebenbei die Auffassung vertreten, daß es letzten Endes in jeder Schule an jedem Tag eine Stunde Sport geben sollte. Um Selbstbewußtsein zu erreichen, um sich auszutoben, um besser lernen zu können und entschlossener zu kämpfen, um Mannschaftsgeist und Fairneß handgreiflich zu erfahren, sollte der Sport nach vorne rücken - und um der Gesellschaft sehr viel Geld zu sparen, denn durch die drastisch verminderten Krankheitskosten machen sich Investitionen in wirklichem Breitensport immer bezahlt.

Die großen Betonschulen mit ihrem Funktionärsapparat müssen verschwinden. Zumindest bei einigen der Lernfabriken der siebziger Jahre sollte sogar der Abrißbagger Arbeit bekommen. Keine Schule darf mehr als 500 bis 600 Schüler, mehr als 50 Lehrer, mehr als drei Direktoren haben. Die Schule muß wieder in die Dörfer zurück - als Grundschule mindestens in jedem zweiten Dorf, als Aufbauschule in jedem größeren Ort. Die Schule muß rigoros entstaatlicht werden und in die Hände der Betroffenen zurückfallen: in die Selbstverwaltung durch die Kommunen, durch Lehrer, Eltern und Schüler. Gegen die Parteibuchwirtschaft bei den Direktoren und Schulräten muß allmählich eine Autonomie durchgesetzt werden.

Die Erzieher von der Säuglingsschwester und dem Kindergärtner bis zum Volkshochschulangestellten und zur Universitätsprofessorin - müssen gesellschaftlich eine ganz andere Rolle spielen als bisher. Ihr Beruf ist ökonomisch, politisch und ideell ein Schlüsselberuf jeder Gesellschaft. So sollte er auch gesehen und gefördert werden, so sollten die Anforderungen sein. Man sollte jedem, der dazu berufen und felsenfest entschlossen ist, die Chance geben, als Lehrer zu arbeiten. Man sollte aber auch nicht zögern, die pädagogischen Nieten, die Laumänner, Dazuverdiener und Ferienschinder herauszuwerfen. Die Schule muß die Fenster weit aufreißen, um den abgestandenen Mief der papierenen Theoretisiererei, des bequemen Selbstlaufs und der ungeistigen Nabelschau zu vertreiben. Die Schule muß Lebensschule sein - offen, veränderungsfähig, lernbegierig, risikobereit. Klassenpraktika in den Betrieben, regelmäßige Exkursionen ins soziale und natürliche Umfeld, mehrwöchige Zeltlager mit praktischer Arbeit an Jugendprojekten - all das würde nicht nur die Qualität der Ausbildung verbessern und den Horizont erweitern, es würde auch mit Schulmüdigkeit, "Schulstreß" und Verweigerungshaltung Schluß machen.

Und noch eins, all den ängstlichen Weibern und alten Männern ins Stammbuch: Bei einer solchen Ausbildung würden wahrscheinlich einige junge Menschen sterben - beim Segeln ertrinken, in den Bergen erfrieren, ins Förderband fallen. Aber es würden hundertmal weniger als heute durch eine katastrophale, lebensfeindliche Politik in Selbstmord oder Drogentod getrieben werden.

Das Ideal einer solche Pädagogik ist der Mensch der Renaissance, der zu fechten und Gedichte zu schreiben, zu philosophieren, zu kämpfen und zu lieben vermag. Die "Ideale" der anderen Seite - der kopflastige Fachidiot, der furchtsame, ebenso schmalbrüstige wie flachköpfige Untertan - würden in einer solchen Schule schnell Gegenwind zu spüren bekommen. Wenn Anpasserei nicht gefragt ist, wenn der unpolitische Fachidiot angemessenerweise als das behandelt wird, was er ist, wenn Fairneß und Kameradschaft, Nachdenklichkeit und Sensibilität, Mut und Entschlossenheit mehr zählen als Eingepauktes und Andressiertes, wenn der ungewöhnliche und eigenartige Schüler statt des artigen und vulgären zur Norm wird - dann allerdings wird mit der totalen Entwertung der heutigen "Tugenden" sich nach und nach auch das Denken und Verhalten ändern. An die Stelle der Diktatur des Anpassertums könnte die Freiheit treten, sich selbst zu bestimmen und sich das Äußerste abzuverlangen.

 

Rolf Stolz schrieb in der JUNGEN FREIHEIT zuletzt über "Integration als Existenzgrundlage" (JF 28/02). Im Herbig Verlag, München, ist gerade sein Buch "Deutschland, deine Zuwanderer" erschienen.


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