© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/02 04. Oktober 2002

 
"Hungrig, erniedrigt und zornig"
Serbien: In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen liegt Nationalist Kostunica vor Reformer Labus
Carl Gustaf Ströhm

Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Serbien hat nur jene westlichen Beobachter über-raschen können, die da meinten, es genüge das Erscheinen eines einzigen demokratisch "gesalbten" Wunderheilers, um das schwer gezeichnete Serbien mit seiner atomisierten Gesellschaft wieder auf die Beine zu stellen.

Der gegenwärtige "Hoffnungsträger" ist Miroljub Labus, Jahrgang 1947 und Kandidat der Demokratischen Partei des im Westen beliebten, im eigenen Land aber eher unpopulären Ministerpräsidenten Zoran Djindjic. Aber der liberale Jurist und Wirtschaftsexperte, der dem Westen so gut gefällt, kommt bei seinen serbischen Landsleuten nicht an. Im ersten Wahlgang rangierte er letzten Sonntag mit 27,7 Prozent hinter seinem "national-serbischen" Rivalen Vojislav Kostunica (31,3 Prozent), dem bisherigen Noch-Präsidenten Rest-Jugoslawiens.

Bezeichnend für die in Serbien herrschende Atmosphäre ist ein Vorfall, der sich kurz vor der Wahl abspielte. Labus, der letztes Jahr als Vizepremier die Auslieferungsorder für Milosevic nach Den Haag unterschrieben hat, wurde von nationalistisch-serbischen Kreisen bezichtigt, einen Sohn zu haben, der israelischer Staatsbürger sei. Labus verwendete große Mühe darauf, nachzuweisen, daß er kein Jude sei, sondern aus einer serbisch-orthodoxen Familie stamme und daß er überdies gar keinen Sohn habe, sondern zwei Töchter. Schon diese Episode zeigt, daß die serbische Politik untergründig noch immer von Mythen beherrscht und bestimmt wird.

"Tschetnik" Vojislav Seselj wurde überraschend Dritter

Nur so ist zu erklären, daß ein Hyper-Nationalist und "Tschetnik" wie Vojislav Seselj, Jahrgang 1954 und Chef der serbischen Radikalen Partei, im ersten Anlauf auf 22,7 Prozent der Stimmen kam. Seselj, dessen großserbische Freischärler ab 1991 (unter der Parole "Einheit oder Tod") während der Kriege in Ex-Jugoslawien eine blutige Spur durch Kroatien und Bosnien zogen, könnte entscheiden, wer im zweiten Wahlgang gewinnt. Es ist als sicher anzunehmen, daß keiner seiner Anhänger Labus wählen wird. Somit stehen die Chancen für Kostunica, den Exponenten der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) gar nicht schlecht. Die serbischen Parteinamen sind für Außenstehende einigermaßen verwirrend: Es macht einen großen Unterschied, ob eine Demokratische Partei sich als "serbisch" deklariert, wie im Falle Kostunicas - oder darauf verzichtet, wie im Falle von Djindjic und Labus. Die übrigen acht Kandidaten fallen kaum ins Gewicht: Der Chef der rechtsnationalen Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO), Vuk Draskovic, wurde mit 4,5 Prozent Vierter. Ihm folgt der Chef der Partei der Serbischen Einheit, Borislav Pelevic, mit 3,94 Prozent der Stimmen; Velimir Bata Zivojinovic von Milosevics Sozialisten (SPS) wurde sogar nur Sechster. Ex-Generalstabschef Nebojsa Pavkovic erhielt 2,06 Prozent der Stimmen. Die restlichen Kandidaten blieben unter zwei Prozent.

Aber auch hier gilt die Regel: Während Labus sein Wählerreservoir ausgeschöpft hat, kann Kostunica auf die meisten Kleinparteien-Anhänger im zweiten Wahlgang zählen. Allerdings gibt es ein Unsicherheitsmoment: Sollte die Politikverdrossenheit und Enttäuschung ein solches Ausmaß annehmen, daß weniger als 50 Prozent beim zweiten Wahlgang erscheinen, müßte die gesamte Wahl wiederholt werden.

Hatte es noch beim Kampf um und gegen Präsident Slobodan Milosevic gewaltige Massenversammlungen und begeisterte oder auch wütende Reaktionen gegeben - gebündelt in dem jetzt längst zerfallenen Anti-Milosevic-Oppositionsbündnis "DOS", so reißt die heutige Wahlkampagne kaum noch jemand vom Stuhl: In der ersten Runde gingen nur 56,2 Prozent der 6,55 Millionen Wahlberechtigten zur Urne.

Das größte Problem Serbiens ist nicht allein ökonomischer Art, obwohl das Land (ohne den Kosovo) mit knapp 7,5 Millionen Einwohnern über eine Million Arbeitslose verzeichnet. Der Lebensstandard ist zwar leicht gestiegen (Durchschnittslohn 120 Euro monatlich), aber die soziale Situation großer Bevölkerungsschichten ist weiter sehr ernst.

Während Labus von "Reformen" und von "Europa" sprach, hat Kostunica an elementare Gefühle der Volksmassen appelliert - zum Beispiel an den gekränkten serbischen Stolz: "Serbien ist hungrig, erniedrigt und zornig", rief der Noch-Präsident Rest-Jugoslawiens, der sein bisheriges Amt verlieren wird, weil es künftig kein Jugoslawien, sondern nur eine staatsrechtliche Konstruktion "Serbien und Montenegro" geben wird. Zum Kapitel Erniedrigung gehört, daß der bisherige Präsident Serbiens, Milan Milutinovic (ein Milosevic-Mann) wegen angeblich im Kosovo begangener Untaten an das Haager Kriegsverbrecher-Tribunal ausgeliefert werden soll.

Amselfeld-Mythos von 1389 immer noch lebendig

Interessant ist allerdings, daß der für das Srebrenica-Massaker verantwortliche General Ratko Mladic immer noch frei herumläuft und niemand, nicht einmal Nato und USA sich trauen, ihn festzunehmen. Auch das hängt mit der serbischen Gemütslage zusammen. Die Serben waren einst de facto die staatstragende Nation Tito-Jugoslawiens - so wie früher auch in der Monarchie vor dem Zweiten Weltkrieg. Kostunica, der "gemäßigte" Nationalist, hat noch in seinem Wahlkampf zu verstehen gegeben, daß Bosnien-Herzegowina eigentlich Serbien gehören müßte.

Hier entsteht also eine paradoxe Situation: Gerade weil sich Serbien in einer fürchterlichen, manche sagen sogar ausweglosen Situation befindet, ist der Mythos vergangener Größe, als der politische Raum der Serben sich von den Karawanken im Norden an der Grenze Österreichs, bis fast an die Ägäis erstreckte, heute noch so stark. Die Serben sind es seit Jahrhunderten gewöhnt, in solchen mythischen Vorstellungswelten zu leben - der Amselfeld-Mythos von 1389 ist nur eines mehrerer möglicher Beispiele. Serbien habe sich stets für andere geopfert und dafür nur Undank geerntet - auf eine solche Position kann man sich auch als armer Schlucker zurückziehen.

Eine solche Situation macht auch den Reformern das Leben schwer, zumal es fraglich ist, ob Reformen unter den gegebenen Umständen überhaupt greifen können. Serbien ist eine zersplitterte, atomisierte Gesellschaft. Die Institutionen sind kaputt, die politische Klasse von Kriminellen durchsetzt. Der Staat selber ist mafiös - hier verwischen die Grenzen.

Da es auf dem Balkan - vorzugsweise auch in Serbien - schon immer mehr als eine einzige Wirklichkeit und Wahrheit gab, erhebt sich die Frage: Sind letztlich die Reformer, die sich den Westlern als ihresgleichen präsentieren, überhaupt Reformer? Auch der vielgepriesene Djindjic mit seinem fast makellosen Deutsch ist und bleibt eingebettet in die serbischen Mythen und Traditionen. Auch er hat sich in kritischen Situationen - etwa während des Bosnien-Krieges - keineswegs als Anti-Nationalist benommen. Ob er sein wahres Wesen damals oder jetzt zutage treten ließ - wer könnte das entscheiden?

Ganz gleich, wer im zweiten Wahlgang gewinnt: Serbien wird auch danach weder eine Demokratie noch ein Rechtsstaat im Sinne des Westens sein. Es wird gewisse Formen übernehmen - aber das Bewußtsein wird sich weiterhin fundamental vom Westen unterscheiden. Am schlimmsten aber ist eine weitverbreitete Hoffnung und Perspektivlosigkeit: So wird Serbien auf viele Jahre ein Therapiefall sein. Dem Westen (und den Deutschen) wird nichts übrig bleiben, als diese Therapie zu finanzieren.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen