© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/02 04. Oktober 2002

 
Bürgeridylle in Königsberg
Vom Pregel nach Porto: Das kulturelle Erbe einer ostpreußischen Großfamilie
Jens-Uwe Pargmann

Während der großen Flut, die in diesem Sommer Sachsen heimsuchte, führten Betroffene immer wieder Klage darüber, daß Elbe und Mulde ihnen auch den allerpersönlichsten Besitz, Familienpapiere und Fotos, fortgespült hätten. Merkwürdig, wie solche Verlusterfahrungen schmerzen. Offenbar so stark, daß an ein Stück materialisierter Erinnerung selbst noch in Lebensgefahr gedacht wird.

Anders ist kaum zu erklären, daß sich im Fluchtgepäck der Vertriebenen aus den preußischen Ostprovinzen neben Stammbüchern und Urkunden gerade Fotoalben fanden, obwohl oft nützlichere Dinge vergessen wurden. Im Abstand von fünfzig Jahren, mit Blick auf die politisch erwünschte Auslöschung deutscher Geschichte im Osten, zeigt sich, um wie vieles wertvoller Fotos sind als Silberbestecke oder Kochtöpfe.

Nicht im Fluchtgepäck, sondern in den Umzugskisten einer Ostpreußin, die 1942 nach Portugal heiratete, entgingen die Manuskripte und Bilder dem Untergang in Königsberg, die Anabela Arnoldt Cudell, ihre 1956 in Porto geborene Tochter, jetzt der Öffentlichkeit präsentiert. Es handelt sich um die recht umfangreichen, mit dem siebenjährigen Krieg einsetzenden Erinnerungen ihres Vorfahren, des 1813 verstorbenen, aus Freiberg in Sachsen eingewanderten Regimentschirurgus Christian David Hilbert, sowie um den Lebensbericht seiner 1943 in Königsberg verstorbenen Urenkelin Anna, die 1872 einen Kommilitonen Friedrich Nietzsches, den Altphilologen Richard Arnholdt heiratete, der bis 1883 am Kneiphöfischen Gymnasium in Königsberg unterrichtete. In ihren Memoiren, die 1884, mit der Versetzung ihres Mannes nach Prenzlau enden, dominiert der Nachklang biedermeierlich-idyllischer Bürgerkultur zwischen 1848 und den Jahren der Reichsgründung, die - im Zeitalter der Ein-Kind-Isolation - mit allsommerlichen Aufenthalten im "Paradies" des Rauschener Feriendomizils und großfamiliären Festen geradezu exotisch wirkt. Aus diesem Bildungsmilieu ragen zwei Namen heraus, die den Rahmen lokalgeschichtlichen Interesses sprengen: der Kantforscher Emil Arnoldt (1828-1905) und das mathematische Jahrhundertgenie David Hilbert (1862-1943), der sich bei der Kreation der Relativitätstheorie ein Kopf an Kopf-Rennen mit Albert Einstein lieferte. Nahegebracht wird uns dies Milieu auch durch die vielen Fotografien aus der Zeit um 1860. Von der Beschaulichkeit des Rauschener Mühlteichs führt dann ein kurzer Weg ins wenig beschauliche 20. Jahrhundert. Die fast 80jährige Grete Hilbert, die sich entschloß, in Rauschen auf die Rote Armee zu warten, erlebte die Plünderung ihrer Villa und starb Ende Mai 1945 an Hungertyphus.

Die etwas ungelenke Einleitung der Herausgeberin, die immerhin auch ihr erfrischendes Bekenntnis enthält, sie fühle sich von der "Kollektivschuld befreit, die jeder deutschen Privatperson in die Wiege gelegt wird", sowie ihre arg knappen und zudem ungenauen Erläuterungen, sollten die Freude des Lesers darüber nicht trüben, daß am anderen Ende Europas ein Stück vom kulturellen Erbe Königsbergs aus der Flut des Vergessens aufgetaucht ist.

Anabela Arnoldt Cudell (Hrsg.): Eine Königsberger Familie. Geschichten der Arnoldts und der Hilberts. C. A. Starke Verlag, Limburg 2001, geb., 343 Seiten, Abbildungen, 20,50 Euro


 
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