© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/02 04. Oktober 2002

 
Die Einzelkindgesellschaft
von Ulrich Beer

Wir beobachten heute eine rapide Zunahme der Zahl von Einzelkindern, die Familie schrumpft auf die Eltern oder auch nur einen Elternteil mit einem einzigen einsamen Kind. Dies hat Auswirkungen - für das Kind und schließlich für die Gesellschaft und die künftigen Gemeinschaften und Gruppen, in denen das Kind einmal leben wird. Auswirkungen, die heute noch schwer abzuschätzen, die mit Sicherheit aber bedeutend und epochenverändernd sind. Um so verwunderlicher, daß eines der wichtigsten Bücher zu diesem Thema, die "Soziologie der Kindheit" von Peter Fürstenau, in seinem Stichwortregister das Wort "Einzelkind" nicht aufführt und in seinem immerhin 358 Titel umfassenden Literaturverzeichnis kein einziges Buch nennt, das sich speziell mit der Situation des Einzelkindes beschäftigt.

Die Liebe bleibt eine Urerwartung und ein Elementarbedürfnis wohl jedes Men-schen. Ob dahinter aber die zuversichtliche Entschlossenheit zu einem Lebensbündnis stehen muß, wird immer fraglicher. Experten berieten ernsthaft auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing, ob man die alte Trauformel "bis daß der Tod Euch scheidet" nicht besser durch die unverbindliche "solange es gutgeht" ersetzen sollte. Und in der Tat hat nach den Berechnungen des Wiesbadener Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung innerhalb von zehn Jahren die Anzahl der unverheiratet Zusammenlebenden sich um über 560 Prozent erhöht. Diese Beziehungen sind durchaus auch Liebesbeziehungen mit reichen und differenzierten Gefühlen, aber sie sollen leichter zu beenden sein, wenn diese Gefühle versanden oder verenden.

Daraus ergibt sich, was der Pariser Familiensoziologe Louis Roussel vermutet: "Es scheint fast so, als verfüge ein immer größerer Teil der Bevölkerung nicht nur über eine einzige kontinuierliche Biographie, sondern über mehrere unabhängige Lebenssequenzen." Auch das genannte Wiesbadener Institut resümiert: "Die Institution Ehe erweist sich zunehmend als obsolet", aber dies deutet eben nicht auf Liebesmangel und Liebesunfähigkeit hin. Gründe sind die höhere Lebenserwartung, die frühe Partnerbindung und die Kurzlebigkeit und variable Dynamik unserer Partnerbeziehungen. Man könnte also paradox sogar sagen: Schuld daran ist die Liebe.

Schon vor vielen Jahren hat der politische Publizist Sebastian Haffner die Ehe als die - nächst dem Krieg - wichtigste Unglücksquelle der Menschheit bezeichnet - und zwar gerade deshalb, weil der Mensch in ihr die größte Glücksquelle vermutet, sie also mit emotionalen Erwartungen überfordert. Die Ehe soll die Liebe garantieren, dabei hat doch schon vor Jahrhunderten die Liebe selten den Grund und die Basis für die Ehe abgegeben. Beides wurde meistens getrennt. Und da der Tod früher eintrat, ergab sich, daß die Lebenspartnerschaften eben auch relativ länger hielten. "Dauerhafte Beziehungen allein auf der Basis von Emotionen aufzubauen", meint Hoffman-Nowotny, "das hat es nie in der Geschichte der Menschheit gegeben." Die gesellschaftliche Norm und der gemeinsame ökonomische Nutzen waren es, die die Menschen aneinander banden - von der Fürsorge für eine meist größere Kinderzahl ganz abgesehen. So konnte und mußte man "zusammenbleiben, auch wenn es mit der Liebe vorbei war".

Liebe ist immer gefährdet und heikel. Sie ist es um so mehr, als in der Einzelkindgesellschaft die Bedeutung der Gefühle und Erwartungen offensichtlich steigt, vor allem aber die Bedeutung von Ansprüchen und Wünschen - und zwar auf beiden Seiten. Und bei der Zunahme der Zahl der Einzelkinder ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, daß zwei Einzelkinder aufeinandertreffen, die mit ihren übersteigerten Erwartungen sich gegenseitig überfordern und schließlich auch noch terrorisieren.

Nebeneffekt dabei: Wenn ihre Beziehung scheitern sollte oder die Eltern entweder geschieden, nicht mehr erreichbar oder gar verstorben sind, haben beide im Grunde keinen einzigen Verwandten mehr, bei dem sie sozialen Rückhalt und einen familiär begründeten Liebesersatz oder sogar die viel stabilere Ursprungsbeziehung familiärer Liebe finden können. Auch Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen wird es kaum noch geben, und zum Beispiel der Begriff "Vetternwirtschaft" wird aus unserem Sprachgebrauch verschwinden. Die Einsamkeit kumuliert also auch hier und aus ganz anderen Blickwinkeln als Konsequenz der Bevölkerungsstatistik. Um so wichtiger werden naturgemäß die freien und freundschaftlichen Beziehungen unter Berufskollegen, Sport- und Hobbykameraden, die religiösen, weltanschaulichen und politischen Gemeinschaften und Initiativen. Ihnen kommt eine neue Heimatfunktion zu. Es ist nicht erstaunlich, daß viele dieser Gruppierungen - vor allem bestimmte religiöse Gemeinschaften und Sekten - besonders stark den Geist der Bruder- und Schwesterliebe pflegen oder sogar erotische Beziehungsmuster anbieten und in ihre Sozialstruktur einbauen. Wenn Jean Jacques Rousseau, der Ahnvater aller modernen Pädagogik, als Summe seiner Überlegungen in seinem erzieherischen Hauptwerk "Emile" als Konsequenz den Rat zog, kein Elternpaar solle mehr als ein Kind erziehen (um es wirklich gut und richtig zu erziehen), so kann man den Erfahrungen, die wir bis heute mit der Einzelkindgesellschaft gemacht haben, einer Gesellschaft, die nach Jörg-Achim Schröder zur "0,5-Kind -Familie" tendiert, nur heftig widersprechen, da Einzelkinder-Familien nicht selten den kleinen Götzen oder den kleinen Tyrannen erziehen.

Der Philosoph und Theologe Friedrich Schleiermacher fragte in einer Vorlesung 1826 bereits: "Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?" Diese Frage müssen wir uns täglich neu stellen. Die Einzelkind- und Narzißtengeneration wird sich ohnehin anders entwickeln, als wir wollen. Und wenn Schleiermacher als wichtigste Aufgabe das "Einwirken auf das jüngere Geschlecht" im ethischen Sinne ansah, die Vermittlung einer Achtung vor kulturellen Werten, vor Staat, Kirche, Wissenschaft und Geselligkeit, vor Kunst und Kultur, dann werden wir angesichts der Tatsache, daß ein Kind heute in einer Woche über die mehr als 30 Fernsehprogramme, die in den meisten Wohnungen zu empfangen sind, bereits über 700 Leichen einschließlich der Methoden, deren Resultat sie sind, sehen können, unser blaues Wunder erleben. Nicht das Blaue von Aladins Wunderlampe, die dem Kind geheimnisvolle höhere Traumwelten eröffnet, sondern des neon-blauen Mattscheibengeflimmers, das heute der abendliche Straßenpassant aus nahezu sämtlichen Wohnzimmern strahlen sehen kann.

Ein kaltes Licht, ein aggressives, ein gefährliches Programm - in einer Welt, in der der Gewaltpegel ohnehin zunimmt und mit der wachsenden Bevölkerungsdichte als nahezu einzige Antwort auf die wachsenden Konflikte die weitere Brutalisierung und Verrohung anzubieten hat. Thomas von Kürthy schreibt in seinem Buch "Einzelkinder": "Untersuchungen zeigen, daß Einzelkinder deutlich mehr Zeit vor dem Fernseher verbringen als Geschwisterkinder, und zwar ungefähr die gleiche Zeit wie behinderte Kinder."

Das Fernsehgerät ist der Prüfstein nicht nur der innerfamiliären Beziehungen, sondern auch der Beziehungen von Kind zu Kind. Kinder, die unter Kontaktschwierigkeiten leiden, weil sie zarter und schwächer, schüchterner und weniger leistungsfähiger sind, von den andern nicht anerkannt werden oder als Einzelkinder gar keinen Kontakt haben, flüchten besonders gern vor den Fernsehschirm, der für sie zur Kontaktlinse mit der Welt wird, durch die sie risikoloser zu betrachten ist. Solche Kinder verbringen Stunden mit diesem scheinbaren Partner, der sie ihre Kontaktschwäche und Unterlegenheit nicht spüren läßt, und benutzen das Fernsehen als Fenster zur Welt wie ein Häftling in der Einzelzelle das Schlüsselloch.

Kontaktschwierigkeiten werden ja nicht dadurch behoben, daß man dem Kontakt aus dem Wege geht. Gewiß, die Auseinandersetzung mit den Freunden auf der Straße und dem Spielplatz erfordert ein gesundes Selbstvertrauen und mitunter Ellenbogen. Es kann sein, daß man zurückgestoßen wird oder Keile bezieht. Diese Gefahr wird auch nicht durch die Behauptung widerlegt, das Kind könne doch durch das Fernsehen viel über die Welt und die Gesellschaft lernen. Mag das Fernsehen die Großmutter weitgehend ersetzen, ja zu einer Art "elektronischer Großmutter" geworden sein, die die Kinder am Nachmittag um sich schart - elektronische Eltern, die nicht mehr mit ihm reden können, weil sie alle gemeinsam gebannt auf die Scheibe starren, ganz gleich, was da kommt, hat das Kind nicht verdient und kann es für seine Entwicklung nicht brauchen. Ja, die einzelnen Kinder beklagen häufig die Abhängigkeit ihrer Eltern von der "Glotzkiste" wie sie selbst es nennen, und in ihren Äußerungen liegt die Trauer und Enttäuschung: "Manchmal ist solch ein Quatsch im Fernsehen, daß man es am liebsten wieder verkaufen möchte, aber man bleibt davor sitzen und muß ruhig sein", sagt ein zwölfjähriges Mädchen. Da nützt die stumme Gegenwart der Eltern auch nicht viel. Sie sind am Abend selber müde, zu müde, um rechtzeitig und mit dem Kind etwas Sinnvolles neu beginnen zu können. In ihren schläfrigen Augen spiegelt sich die Mattscheibe wider. So haben viele Kinder zwar die Welt in der Wohnung, aber eigentlich keine Wohnung mehr in der Welt...

Wer im Hinblick auf die Zukunft der Einzelkindgesellschaft eine Vorausschau wagt, steuert zwischen der Scylla eines biologischen Determinismus und der Charybdis einer soziologischen Beliebigkeit hindurch und muß sich um Behutsamkeit bemühen. Die Scylla wird von Irenäus Eibl-Eibesfeldt vertreten, der in einem Interview der Frankfurter Rundschau feststellt: "Wir laufen Gefahr, in einer Gesellschaft selbstbezogener Rüpel zu enden." Und die Charybdis wird durch den Soziologen Ulrich Beck verkörpert, der gleichmütig-sarkastisch feststellt: "Es ist nicht mehr klar, ob man heiratet, wann man heiratet, ob man zusammenlebt und nicht heiratet, heiratet und nicht zusammenlebt, ob man das Kind innerhalb oder außerhalb der Familie empfängt oder aufzieht, mit dem, mit dem man zusammenlebt, oder mit dem, den man liebt, der aber mit einer anderen zusammenlebt, vor oder nach der Karriere oder mittendrin."

Die zu erwartende Buntscheckigkeit aller familiären Beziehungen könnte auch Hoffnungen für die Zukunft wecken: Das Kind muß nicht in der ghettohaften Isolation der Kleinstfamilie verharren. Gerade die größte Bedrohung durch die wachsende Zahl von Trennungen, Scheidungen, Familienauflösungen bedingt auch neue Kombinationen und kaleidoskopische Verschüttelungen, die zu erweiterten Geschwisterkonstellationen und immer neuen Bindungen zu führen versprechen.

Je anonymer und vereinzelter die Menschen leben, um so mehr sehnen sie sich nach Wärme, Geborgenheit, Herzlichkeit, und das gibt der Familie eine Chance. Allerdings werden die Strukturen sich verändern. Der Soziologe Ralf Dahrendorf unterscheidet in seinem Buch "Lebenschancen" zwei soziale Grundelemente, die er Optionen und Ligaturen nennt. Optionen sind die in der Gesellschaft vorhandenen Wahlmöglichkeiten und Handlungsalternativen einer Person. Ligaturen bezeichnen die gesicherten Bezüge, Bindungen und Verankerungen. Zwischen beiden stehen wir alle in einem Spannungsverhältnis, und so scheinen sich mehr und mehr Menschen in dem unverbindlichen Schwebezustand möglichst vieler Optionen anzusiedeln. Die pluralistisch-kapitalistische Wirtschaft erlaubt es immer mehr Menschen, sich eine eigene soziale Szene aufzubauen, in der Freizeit, Freiwilligkeit und Entscheidungsfreiheit dominieren. Der Preis ist allerdings häufig die Vereinzelung und damit auch die Vereinsamung. So leben zahllose Menschen in den Waben der Betongesellschaft, vom Wandnachbarn zwar akustisch schwach, aber seelisch und sozial um so stärker isoliert.

Aber schließlich ist der Mensch nicht nur ein biologisch-zwangsdeterminiertes Wesen, sondern zu bedingt freiem Handeln fähig: Er kann seine Nachbarn aufsuchen, kann Stadtteilinitiativen, Interessengruppen, Einkaufs- und Fahrgemeinschaften, spirituelle Gruppen ins Leben rufen und dabei auch eine neue Geschwisterlichkeit entdecken und entwickeln. Entscheidend ist die Flexibilität im Rollenverständnis der Geschlechter und Generationen. Aus ihr kann ein völlig neues Beziehungsgeflecht erwachsen. Das gilt auch für die Familie, deren Struktur und Erscheinungsbild sich zwar einschneidend wandelt, deren Hauptfunktionen jedoch wichtig bleiben und die sogar in Gegenwart und Zukunft noch stärker hervortreten werden. Dies allerdings setzt voraus, daß sie die Rollen ständig neu verteilt und vergibt. Sonst ergeht es ihr wie anderen Institutionen im Laufe der Geschichte: Wer nicht flüssig wird, wird überflüssig.

Mit anderen Worten: Wenn die Familie sich nicht dem umstürzenden Wandel in der Gesellschaft öffnet und sich darauf einstellt, droht ihr die Gefahr der Erstarrung und der Antiquiertheit. In der Tat: Die Familie der Zukunft wird eine gefährdete Familie sein. Und dennoch: Die Familie lebt, ist in allen Wandlungen wieder auffindbar, stellt sich auf immer neue Füße, ist das wahrscheinlich überlebensfähigste soziologische Stehaufmännchen der Weltgeschichte. Daß sie überlebt, ist für die Gesellschaft, für uns alle lebenswichtig.

 

Ulrich Beer, Jahrgang 1932, ist promovierter Psychologe und Psychotherapeut. Einem breiten Publikum bekannt wurde Beer durch die Fernsehsendung "Ehen vor Gericht", die er viele Jahre lang moderierte.


 
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