© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Neue Technologien: Hirnschrittmacher
Das Gequäle mit der sogenannten Seele
Angelika Willig

Eher spielerisch hatten wir neulich die Möglichkeit übersinnlicher Wahrnehmungen durch gezielte Stromstöße ins Gehirn beschrieben (JF 40/02). Inzwischen findet diese Technik schon Anwendungen, die alles andere als harmlos sind und wieder einmal unser Menschenbild in Frage stellen.

Das Manipulieren des Bewußtseins durch Elektroden ist im Tierversuch bereits zur Routine geworden und wird nun zunehmend beim Menschen medizinisch angewandt. Nach einer minutiösen Erforschung der einzelnen Hirnregionen weiß man inzwischen, wo die Herkunft bestimmter nervlicher Leiden liegt. So wird eine Region des unteren Vorderhirns, der Nucleus accumbens, als "Angstzentrum" bezeichnet. Genau hier hat Professor Volker Sturm von der Universitätsklinik Köln seine Elektrode eingesetzt. Das geschieht - ganz wie im Gruselkabinett - mit feinen Bohrungen durch die Schädeldecke. Die "Batterie" sitzt unter dem Brustmuskel, von dem Kabel unter der Haut ins Hirn führen. Wie Sturm betont, können diese Apparaturen jederzeit wieder entfernt werden, ohne irgendeinen Schaden zurückzulassen. Er verweist auf den ähnlich funktionierenden und gutbewährten Herzschrittmacher. Aber Herz und Hirn sind doch nicht das gleiche, oder? Das Herz ist ein Organ wie andere auch, das Hirn, wie selbst Gottfried Benn zugeben mußte, ist Geist.

Weshalb um Himmels willen mutet der Hirnchirurg seinen Patienten diese Tortur zu? Es sind Zwangskranke, von denen er bereits drei auf diesem Weg nahezu geheilt haben will. Dazu muß man wissen, daß Zwangsstörungen der Ausdruck tiefsitzender Ängste sind. Die vordergründige Angst vor Schmutz, vor Einbruch, vor Unfällen führt zur zwanghaften Kontrolle, zu Zwangsvorstellungen und Zwangsdenken. Wer die invasive Medizin grausam findet, sollte die Grausamkeit dieser Neurosen und die Verzweiflung ihrer Opfer studiert haben. Eine der Probandinnen ist eine junge Mutter, die ihren Sohn nachts buchstäblich hundert Mal aufweckte, um nachzusehen, ob ihm auch nichts passiert sei. Bisher enden solche Existenzen bei ungeschmälerter Intelligenz in geschlossenen Heimen, weil der Zwang keine normale Lebensführung mehr zuläßt. Für seine Therapie wird Professor Sturm jede Menge Patienten finden. Etwa zwei Prozent der Bevölkerung sind betroffen.

Dennoch gibt es keinen Grund zum Jubeln. Elektrische Therapien richten sich, genau wie die Psychopharmaka, nur gegen die Symptome. Die Ursache der Krankheit, egal ob sie nun genetisch oder eher lebensgeschichtlich bedingt ist, wird dadurch nicht angetastet. Die Angst bleibt also. Und sie kennt tausend Schliche, sich durch die Hintertür wieder hereinzustehlen und einzunisten, ganz woanders vielleicht. Das kranke Gehirn ist letzten Endes "leistungsfähiger" bei der Selbstzerstörung, als eine medizinische Heilkonstruktion es je sein kann. Denn sie operiert von außen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen