© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Ein rot-grüner Pyrrhussieg
Gesundheitspolitik: Die Bundesregierung steht vor einem Problemberg / Einsparpotentiale im Gesundheitswesen nutzen
Jens Jessen

Am 23. September verkündete der damalige SPD-Generalsekretär Franz Müntefering, die "rot-grüne Epoche" sei angebrochen. Am 2. Oktober meldete das Handelsblatt, daß die Beitragssatzerhöhung der Gesetzlichen Krankenkassen, trotz der rüden Beschimpfungen durch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) an die Adresse derer, die diese Beitragserhöhungen für das Jahr 2003 befürchteten, nicht zu umgehen ist. Die Beitragssätze in der Rentenversicherung bleiben konstant, betonte SPD-Arbeitsminister Walter Riester vor der Wahl.

Jetzt geht der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger von einer Steigerung der Rentenversicherungsbeiträge von 19,1 auf 19,5 Prozent für das Jahr 2003 aus. Die Zahl der Arbeitslosen, so Florian Gerster (SPD), Chef der Bundesanstalt für Arbeit, wird nicht sinken, sondern steigen. Kenner befürchten im Winter eine Zunahme auf 4,7 Millionen. Das hätte zur Folge, daß der Bund im nächsten Jahr 3,5 Milliarden Euro statt der im Haushalt des Bundes vorgesehenen 2 Milliarden zur Arbeitslosenversicherung zuschießen muß, damit die Beiträge konstant bleiben. Wie gerne hätten die Rot-Grünen die steigende Zahl der Arbeitslosen, höhere Belastungen durch Renten- und Kassenbeiträge den Schwarz-Gelben hinterlassen, um sie in ihrer unnachahmlichen Art von Rechthaberei und Impertinenz dem staunenden Volk vorzuführen. Jetzt wird nach dem hauchdünnen Sieg der Koalitionäre das Chaos kleingeredet. Konzepte für ein Regierungsprogramm sind nicht zu erkennen, es sei denn, die alten Vorstellungen werden wieder aufgegriffen. Alles spricht dafür, daß den alten Neuen nicht anderes als das Alte einfällt.

Ulla Schmidt wird, trotz ihres verheerenden Versagens bei der lauthals verkündeten Konsolidierung der finanziellen Verhältnisse der Gesetzlichen Krankenkassen, nicht ersetzt. Ihre Erfolglosigkeit ist ein Gütezeichen. Die Wirtschaftswoche vom 3. Oktober ist sich sicher, daß Ulla Schmidt - wie früher schon - versuchen wird, die Arzneimittelpreise zu stabilisieren, Mehrfachuntersuchungen durch die Einführung einer neuen Chipkarte einzudämmen, die Qualifizierung der Leistungserbringer voranzutreiben und die Prävention zu stärken. Obwohl drei der vier genannten Maßnahmen bei der Umsetzung erhebliche Kosten verursachen werden, sind höhere Selbstbeteiligungen für sie kein Thema, ebenso wenig die Abkehr von der paritätischen Finanzierung der Beiträge an die Krankenversicherungen, die mit dem Solidargedanken gut zu begründen wäre.

Solidarität wird - wie zu Bismarcks Zeiten der "Kaiserlichen Botschaft vom November 1881" - als durch die Obrigkeit bestätigter Anspruch auf soziale Sicherheit im Krankheitsfall verstanden. Selbstverständlich sind Solidarität und Subsidiarität nötig, wenn individuelle oder genossenschaftliche Selbsthilfe nicht ausreicht. Solidarität und Subsidiarität sind Formen des Helfens, eines Helfens, das "durch einen Vergleich von Tatbestand und Programm ausgelöst" wird (Gerd Hörnemann, Solidarischer Wettbewerb, Deutsches Ärzteblatt 2001; 98:A 522). Die SPD kehrt in der Gesundheitspolitik damit zu ihrem Grundmythos von der Partei der Solidarität zurück und macht so die PDS überflüssig. Die Finanzierung der uneingeschränkten Solidarität für jeden und alles kostet viel Geld. Das soll unter anderem durch die Anhebung der Versicherungspflicht auf die Höhe der Bemessungsgrenze der Rentenversicherung beigebracht werden.

Was benötigt wird, ist eine solidarische Wettbewerbsordnung im Gesundheitswesen. Die wird nur erreicht durch eine Auflösung der Kartelle der Leistungserbringer und eine Beseitigung der Verpflichtung des identischen Auftritts der Kassenseite. Wettbewerb innerhalb eines solidarischen Systems kann allein dann Bestand haben, wenn die eine Seite die andere Seite nicht mit Knebelverträgen abhängig macht. Alle Zeichen deuten darauf hin, daß es zu einem solidarischen Wettbewerb nicht kommen wird, da zumindest die SPD die Kassen einseitig stärken und die Kraft der Leistungserbringer schwächen will. Wenn diese Vorschläge umgesetzt werden, treten die Kassen den zersplitterten Leistungsanbietern als Monopol gegenüber. Die Kassen sollen das Recht selektiver Vertragsabschlüsse mit einzelnen Ärzten oder Arztgruppen erhalten. Im Modell eines der SPD nahestehenden Gutachtervorschlags soll die Steuerung durch Einkaufsrechte auf die einzelnen Krankenkassen verlagert werden, die aber nur für ihre jeweiligen Versicherten Verträge abschließen können. Ein anderer Gutachter - Professor Karl Lauterbach von der Uni Köln - hat als gesundheitspolitischer Berater von Ulla Schmidt einen ganz neuen Vorschlag gemacht, der die Hilflosigkeit der rot-grünen Gesundheitspolitik deutlich werden läßt: die Koalitionäre müssen sparen, egal wo.

Lauterbach schlägt vor, durch die Schließung von 1.410 Krankenhäusern 231.651 Krankenhausbetten zu beseitigen. In Deutschland gibt es seiner Ansicht nach eine extreme Überversorgung im stationären Bereich. Während in Europa, den USA, Kanada und in Australien nur vier Betten auf 1.000 Einwohner vorgehalten werden, seien es in Deutschland sieben. 41 Prozent der Betten und 60 Prozent der Krankenhäuser seien überflüssig und sogar schädlich für die Qualität der Versorgung, da durch die Vielzahl der Abteilungen die Zahl der Patienten zu klein sei, um gute Qualität zu erbringen (Ärzte Zeitung, 2. Oktober 2002). Mit Wettbewerb und Solidarität haben beide Vorschläge nichts zu tun.

Die Versicherten werden weder den Kahlschlag im Krankenhausbereich noch den Einfall goutieren, die Ärzte zu kassenabhängigen Leistungsanbietern zu machen. Eher werden sie die Vielfalt der Kassenarten als überflüssig und zu teuer ansehen, da diese unterschiedlichen Kassen doch nur gemeinsam und einheitlich auf den entscheidenden Gebieten - Leistungsumfang und Selbstbeteiligung - wirken. Die Forderung nach einer Einheitskasse könnte die logische Folge sein, die das Ende der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen wäre. Ob sich damit Kosten sparen ließen und die Qualität des Gesundheitswesens beibehalten würde, ist nach Kenntnis des englischen Gesundheitswesens als ziemlich unwahrscheinlich anzusehen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen