© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Litauische Protestkultur
Matthias Bäkermann

Auch dieses Jahr wird Bundeskanzler Schröder, wie alle Jahre wieder, mit einem ausländischen Staatsgast die Frankfurter Buchmesse eröffnen - diesmal ist es der litauische Präsident Valdas Adamkus. Und im nächsten Jahr wird man sich kaum erinnern, wer das Gastland-Ritual zur 54. Buchmesse 2002 durchführen durfte - wer erinnert sich heute noch an Griechenland (2001) oder gar an Polen (2000) und Ungarn (1999)?

Gerade Litauen ist für den literarisch Interessierten nicht unbedingt als das Füllhorn epischer Latifundien bekannt. Dafür bot das kleine Land im Baltikum in seinen kurzen historischen Fenstern der Unabhängigkeit auch zu wenig Freiräume - das mittelalterliche Großreich bis zur Union mit Polen 1386 einmal ausgenommen. Zu gewichtig waren zudem seine literaturgeschichtlich bedeutenden Nachbarn Rußland, Polen und Deutschland.

Doch zumindest kann keines dieser Nachbarländer behaupten, wichtige politische Prozesse allein durch kulturelles Schaffen angeregt zu haben, wie es die Litauer zusammen mit den baltischen Partnern Lettland und Estland mit ihrer friedlichen "Singenden Revolution" 1991 vormachten. In Ermangelung eines politischen oder gar militärischen Machtinstruments schöpften die Völker der Sozialistischen Sowjetrepubliken ihren Protest allein aus dem Vorhandenen ihrer Sprache, ihrer Folklore, ihren Liedern und Symbolen.

Und gerade damit könnte die kleine Nation an das totale Versagen des intellektuellen Establishments in Deutschland erinnern. Denn wenn man sich bei den diesjährigen Lesungen und Präsentationen des Gastlandes mit Kennermiene an dessen kulturellen Schätzen erbaut, sollte nicht vergessen werden, daß zu Beginn der neunziger Jahre Gleiches noch als Ausdruck von Separatismus und Nationalismus verdammt wurde, da die Sowjetunion mehr als "Paradies der Werktätigen" denn als Völkergefängnis die Wahrnehmung beherrschte und gelebte nationale Identität eher zum Naserümpfen Anlaß gab.


 
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