© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
"Indien an der Ostsee"

Nikolaus Ehlert, Gründer des "Deutsch-Russischen Hauses", über Königsberg, den Korridor-Konflikt und deutsche Hoffnungen
Moritz Schwarz

Herr Ehlert, zwischen Rußland und der Europäischen Union schwelt ein Konflikt um die "Oblast Kaliningrad", das "Gebiet Königsberg", wie die Russen das deutsche Nordostpreußen nennen. Moskau forderte für den Fall der Aufnahme Polens und Litauens in die EU zunächst sogar "geschlossene Korridore", um das Gebiet mit Rußland zu verbinden. Inzwischen ist zwar nur noch von einer eigenen, paßfreien russischen Bus- und Bahnlinie sowie von allgemeiner Visafreiheit die Rede, aber der EU gehen die Forderungen immer noch zu weit. Beim EU-Treffen in Brüssel Ende Oktober soll nun erneut beraten werden. Ist eine Lösung abzusehen?

Ehlert: Das Problem ist, daß die Verantwortlichen in Moskau und der EU keine Ahnung von der Situation hier haben. Sie machen sich darüber offenbar auch kaum Gedanken, sondern verfolgen nur ihre Interessen: Moskau möchte das Gebiet sozusagen festhalten, nur nicht loslassen, und Brüssel möchte sich gegenüber unkontrollierten Einflüssen aus Rußland abschotten. Die Menschen hier sind darüber sehr unglücklich, weil sie Angst haben, quasi eingesperrt zu sein.

Wie wichtig ist Rußland das Problem tatsächlich? Wird es zum diplomatischen Konflikt kommen?

Ehlert: Das glaube ich nicht, nicht solange Putin herrscht. Im Gegenteil, die Annäherung Rußlands an den Westen ist unter ihm schließlich weiter fortgeschritten denn je. Man wird schon eine Lösung finden, allerdings müssen sich die Russen wohl daran gewöhnen, daß sie keine geschlossenen Korridore erhalten werden und daß auch die Zeit der visafreien Einreise in die Nachbarländer vorbei ist. Das ist aber völlig normal.

Wie könnte eine Lösung aussehen?

Ehlert: Die Russen werden neue Verträge schließen müssen und in Zukunft eben Transitvisa beantragen. Außerdem gibt es ja noch Schiffe und Flugzeuge. Nach 1918, als wir Deutschen durch die Einrichtung des polnischen Korridors ein ähnliches Problem wie die Russen heute hatten, hat man mit dem "Seedienst Ostpreußen" eine Schiffsverbindung aufgebaut - auf diese Weise gelang es, Ostpreußen an das Reich anzuschließen.

Rußland wird sich nicht damit begnügen, das Problem allein auf seine Kosten zu lösen.

Ehlert: Mein Vorschlag wäre, Nordostpreußen gesondert in die EU aufzunehmen. Rußland kann man nicht aufnehmen, aber ein Beitritt der Oblast Kaliningrad würde die Entwicklung in ganz Rußland fördern, denn von hier aus könnte die Modernisierung auf das ganze Land übergreifen. Das meinte auch Putin mit dem Begriff "Pilotregion".

Putin will aber Nordostpreußen möglichst eng an Rußland anbinden.

Ehlert: In der Tat, der Gouverneur Jegorow ist eigentlich nur ein Vertreter Moskaus. Er ist zwar ein guter, aber leider kein politischer Mann.

Ein Hintergrundgespräch der JUNGEN FREIHEIT mit seinem Büro hinterließ einen eher bestürzenden Eindruck.

Ehlert: Das verkennt Jegorows Möglichkeiten. Das Gebiet wird von Jegorow vor allem verwaltet - er war zuvor Kommandeur der Baltischen Flotte - nicht selbständig entwickelt. Es gibt aber durchaus Entwicklungschancen.

Erst in den letzten Jahren wurde Königsberg den Menschen in Rußland überhaupt wirklich bekannt. Wozu auch die von Ihnen mitorganisierte große Königsberg-Ausstellung in Moskau beigetragen hat.

Ehlert: Ja, das Gebiet war vierzig Jahre militärisches Sperrgebiet und war daher den Menschen der Sowjetunion völlig fremd. Vor einigen Jahren gab es im russischen Fernsehen anläßlich des Besuchs des Münchner Verlegers und Vorsitzenden der Deutschen Volksunion, Gerhard Frey, und seines Treffens mit Wladimir Schirinowski eine spontane Straßenumfrage in Moskau zu sehen, die offenbarte, daß die Leute nicht die geringste Ahnung hatten, wo Königsberg überhaupt liegt. Das hat sich in den letzten Jahren geändert, heute weiß man, daß Königsberg an der Ostsee und nicht in Sibirien liegt.

Doch die Stimmung hier ist schlecht, vor allem weil Nordostpreußen, was Wohlstand und Wirtschaft angeht, hinter seinen Nachbarländern Polen und Litauen deutlich zurückbleibt.

Ehlert: Das ist richtig, dennoch muß man die Fortschritte sehen: Die Läden sind voll, man findet fast alles, was man benötigt, wenn auch nicht überall. Es gibt inzwischen bei einer Einwohnerzahl von etwa 300.000 Menschen in Königsberg sechs riesige Supermarkthallen, von einer Größe, wie wir sie in der Bundesrepublik kaum kennen. Die jungen Mädchen hier sind sehr adrett gekleidet, und es gibt Läden von Hugo Boss oder französischen Mode- und Parfümherstellern. Der Autoverkehr wird immer dichter, und es gibt an allen Ecken bereits moderne Tankstellen mit Verkaufsbereich, wie wir sie im Westen haben.

Wie ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt?

Ehlert: Arbeit gibt es schon, nur sind die Gehälter äußerst niedrig, und das ist das große Problem. In Königsberg gibt es eine kleine reiche Oberschicht und eine große arme Unterschicht. Dennoch, die Leute kommen über die Runden, mit Ausnahme der Rentner, die alleinstehend sind und nicht von Verwandten unterstützt werden - diese Leute sind wirklich arm dran.

Ist die Situation wenigstens besser als in Rußland?

Ehlert: Da ich außer Königsberg in letzter Zeit aus eigener Anschauung nur Moskau kenne, kann ich das nicht beurteilen, aber ich habe mir sagen lassen, ja.

Ist man also auf dem Weg zum "Hongkong der Ostsee"?

Ehlert: Das sind Schlagworte. Mal heißt es "Hongkong an der Ostsee", dann "Luxemburg an der Ostsee" - ein Professor der Universität hat sogar einmal vorgeschlagen vom "Athen an der Ostsee" zu sprechen, mit Verweis auf Königsbergs frühere geistige Bedeutung. Dem möchte ich aber provokativ die Formel "Indien an der Ostsee" entgegenstellen, nicht nur wegen der Kühe, die hier bis in die Stadtmitte laufen, sondern vor allem wegen der kleinen Oberschicht, sozusagen die Maharadschas, und der armen Masse der Bevölkerung. Das ist das große, drückende Problem.

Was ist aus der Idee einer vierten unabhängigen baltischen Republik geworden?

Ehlert: Anfangs gab es hier zwar eine Gruppe, die sich dafür eingesetzt hat, heute ist diese Idee aber aus der Tagespolitik verschwunden.

Was ist dran an der Formel von der "Brücke zum Westen"?

Ehlert: Es stimmt wohl, daß mehr junge Leute aus Königsberg bislang im Westen waren als in Moskau. Das hängt natürlich auch damit zusammen, daß es zahlreiche Organisationen, vor allem in Deutschland gibt, die Jugendlichen aus Königsberg Stipendien im Westen bezahlen oder sie nach Deutschland einladen. Entscheidend aber ist, daß das alte Königsberg, und damit die Ausrichtung auf den Ostseeraum, in Erinnerung an die alte Hansezeit, und nach wie vor im Bewußtsein der Menschen hier lebendig ist. Und das trotz aller Bindungen an Moskau.

Gibt es einen besonderen Blick auf Deutschland?

Ehlert: Man hat große Hoffnungen auf Deutschland gesetzt, die sich aber nicht erfüllt haben. Dennoch gibt es viele private und wirtschaftliche Verbindungen nach Deutschland. Immerhin sind die Deutschen nach den Polen und Litauern die größten Investoren in Nordostpreußen.

Warum sind Sie als Pensionär 1992 nach Ostpreußen gegangen?

Ehlert: Eher zufällig und keineswegs aus Nostalgie, trotz familiärer Bindungen mütterlicherseits. Ich hatte schon auf einer Tagung in Deutschland Anfang 1992 die gesamte damalige politische Spitze Kaliningrads kennengelernt. Auf Bitten von Gräfin Dönhoff habe ich die technischen und administrativen Aspekte der Neuaufstellung des Kant-Denkmals übernommen, das sie über Die Zeit finanziert hatte. Dabei sah ich, daß man den Menschen helfen muß, eine demokratische Gesellschaft mit freier Wirtschaft aufzubauen. So wurde ich in das Geschehen der Region immer mehr hineingezogen, war Gründungsdirektor des Deutsch-Russischen Hauses, gründete die örtliche Goethe-Gesellschaft, schloß einen Vertrag mit der Universität für den Aufbau einer Präsenzbibliothek in der Geschichtsfakultät, förderte überhaupt die Universität mit inzwischen gut 15.000 Bänden Fachliteratur, arbeitete intensiv am Wiederaufbau des Doms und an einer ganzen Reihe anderer Objekte, wobei die Mittel über den von mir gegründeten "Förderverein Königsberg" flossen. Die Aufzählung der materiell und finanziell geförderten Projekte ließe sich lange fortsetzen.

Bekanntlich stehen die Russen zur deutschen Vergangenheit ihrer Stadt.

Ehlert: Unter den Jugendlichen und zunehmend auch unter den Erwachsenen - inzwischen sogar in den Zeitungen - ist es schick, die Stadt "Koenig", statt Kaliningrad zu
nennen.

Sind sich die Menschen bewußt, daß ihre Heimat kein russisches Land, sondern Kriegsbeute ist?

Ehlert: Durchaus, das Gebiet ist 1945 auf der Potsdamer Konferenz von allen Siegermächten Rußland zugestanden worden, wenn auch mit dem Vorbehalt, daß eine endgültige Regelung einem Friedensvertrag vorbehalten bleibt. Den hat es aber nie gegeben und den wird es auch nie geben. Die Russen betrachten das Gebiet heute selbstverständlich als russisch, und die Deutschen werden es nie ernsthaft in Anspruch nehmen.

Das heißt, die Russen betrachten Nordostpreußen nicht als Vorposten, sondern als integralen Bestandteil ihres Landes?

Ehlert: Selbstverständlich.

Dann besteht keine Möglichkeit, die Russen zu einer Rückgabe des Gebietes zu bewegen?

Ehlert: Ich weiß zwar nicht, was in hundert Jahren sein wird, aber ich halte das für ausgeschlossen. Hier in Königsberg dient das Gespenst einer Rückgabe an Deutschland lediglich einigen Politikern zur Panikmache.

Panikmache?

Ehlert: Verschiedene politische Parteien oder auch einige Veteranenverbände thematisieren gerne die möglichen Gefahren für Kaliningrad und verunsichern dadurch die Bevölkerung.

Die Menschen durchschauen also die tatsächliche geopolitische Situation nicht?

Ehlert: Nein, und verschiedene Rechtsparteien, aber auch die Kommunisten nützen das aus - Tenor: "Wir werden verraten!"

Die Menschen fürchten deutsche Ansprüche?

Ehlert: Eine gewisse Angst ist da, aber die Angst vor einer Abschnürung durch die EU ist derzeit größer: "Wir werden wie im Gefängnis leben", wurde mir zum Beispiel neulich gesagt. Das ist natürlich Unsinn, aber so denken viele Leute.

Geht damit die Befürchtung einher, daß mit einer Abschnürung die Möglichkeit einer Rückgabe an Deutschland größer wird?

Ehlert: So ist es - tatsächlich aber ist das natürlich absurd. Eher würde das Gebiet unter Polen und Litauen aufgeteilt, die nämlich anders als Deutschland schon darauf warten.

Es geht immer wieder das Gerücht um, die Menschen in Kaliningrad warteten nur darauf, daß Nordostpreußen zurück an das reiche Deutschland fällt.

Ehlert: Das halte ich für Unsinn. Ein kleiner Teil der Leute hier mag so denken, die Mehrheit der Menschen will aber nicht von Rußland weg.

Nach dem Ende der Sowjetunion soll es ein geheimes russisches Angebot an Deutschland gegeben haben, das Gebiet zurückzugeben. Bundeskanzler Kohl soll aber aus Angst vor den Kosten nicht darauf eingegangen sein.

Ehlert: Das sind, Sie sagten es bereits, Gerüchte. Es hat nie jemand eine seriöse Quelle für diese Geschichte nennen können.

Vorstellbar aber ist es?

Ehlert: Vorstellbar schon, etwa im Tausch gegen einen Erlaß der Schulden an Deutschland. Aber all das ist reine Spekulation und scheitert schon daran, daß in Deutschland doch keiner wirklich das Gebiet zurückhaben will. Und Polen und Litauen würden es zudem nicht zulassen.

Was sollten sie unternehmen?

Ehlert: Ich glaube, sie würden sofort einmarschieren.

Was ist aus dem Plan geworden, Nordostpreußen zur Heimstatt der Rußlanddeutschen innerhalb der russischen Föderation zu machen?

Ehlert: Das war auch nur die Chimäre einiger deutscher Politiker. Die Zahl der sich als Rußlanddeutsche Erklärenden bleibt im Gebiet bei rund 6.000 Personen konstant. Wobei die wenigsten Deutsch sprechen oder überhaupt deutsche Wurzeln haben. Das historische Ostpreußen kann es nicht mehr geben. Aber wer als Deutscher hier helfen und arbeiten oder sich hier niederlassen will, ist willkommen und kann sogar - wie ich selbst und Dutzende andere - Wohnungseigentum erwerben. So bleibt ein wachsender deutscher Einfluß permanent vorhanden. Sogar die Domuhren gehen nach der deutschen Zeit, sie werden, wie meine Armbanduhr, per Funk aus Frankfurt gesteuert. Man darf die Lage des Gebiets nicht dramatisieren, wie es allzu viele tun. Schon heute besteht weitgehende Freizügigkeit für Menschen und Währung. Und da Rußland immer mehr in das westliche Europa integriert wird, dürften die heute manchem bedrohlich erscheinenden politischen Grenzen in absehbarer Zeit keine Rolle mehr spielen. Das Gebiet hat potentiell die besten Aussichten, eine wichtige Rolle im Ostseeraum zu spielen. Kaliningrad liegt westlicher als Warschau, also im Zentrum Europas. Wie ganz Rußland, hat man dort durch die jahrzehntelange Abschnürung von der Moderne eine Menge nachzuholen, äußerlich und im Denken. Wenn wir dabei helfen, helfen wir gefährliche Unruhen zu vermeiden, die auch uns treffen würden.

 

Nikolaus Ehlert geboren 1922 in Berlin, entstammt er einer baltendeutschen Familie, die nach der Oktoberrevolution Rußland verließ. Nach dem Zweiten Weltkrieg - Ehlert diente an der Ostfront - arbeitete er zunächst als Pressechef der französischen Militärregierung und ab 1950 im Bundesjustizministerium in Bonn. Später wechselte er ins Auswärtige Amt und war ab 1956 bei der deutschen Botschaft in Moskau tätig. 1962 wurde er Chefredakteur des russischen Programms der Deutschen Welle in Köln. Als Privatier ging er nach dem Ende der Sowjetunion nach Nordostpreußen und gründete dort mit Unterstützung des Bundesinnenministeriums 1993 das "Deutsch-Russische Haus", dessen erster Leiter er wurde - was ihm den Spitznamen "Deutscher Botschafter in Königsberg" einbrachte. Heute lebt Ehlert als Pensionär in

Königsberg und leitet den "Förderverein Königs-berg e.V." Kontakt: Stolzenbach 2, 51789 Lindlar

 

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