© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Korruption mit Tradition
Carl Gustaf Ströhm

In der allgemeinen Osterweite rungseuphorie wird neben manch anderen "Haaren" in der europäischen Suppe ein Aspekt weitgehend unter den Teppich gekehrt, der das Klima zwischen EU-Beitrittskandidaten und EU-Altmitgliedern schwer belasten könnte. Es geht um die Korruption, die in sechs der zehn Beitrittsländer bis heute grassiert.

Als korruptionsgefährdet gelten Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, die Tschechei und Ungarn. Hinzu kommen die beiden EU-Nachzügler Bulgarien und Rumänien, die auf das Jahr 2007 hoffen. Wenn man von der Korruption im Osten spricht, so hat sie zwei Wurzeln: eine autochthone - und eine importierte. Letztere hängt mit dem Kommunismus zusammen. Unter der Sowjetherrschaft wurden alle traditionellen Werte und Institutionen zerstört. Betrug, Diebstahl und Bestechung wurden zu unverzichtbaren Überlebenshilfen.

Wer den Staat beklaute, war ein Held. Das Ganze gipfelte dann in der Parole: "Ihr könnt mich gar nicht so schlecht bezahlen, daß ich nicht noch schlechter arbeite." Der Kommunismus erwies sich in allen Ländern, die einst hinter dem "Eisernen Vorhang" abgeschottet waren, als große Schule der Demoralisierung, durch die fast alle hindurchgehen mußten.

Daneben hat aber auch die traditionelle, eigenständige Korruption überdauert - die Tradition, wonach der Bauer das staatliche Amtsgebäude mit einer Gans unter dem Arm betritt, es aber ohne Gans wieder verläßt. Solche Sitten gehören gewissermaßen zur "Folklore" des betreffenden Landes. Man erinnere sich nur an den Bismarck oder Zar Alexander II. von Rußland zugeschriebenen Ausspruch (die Urheberschaft ist strittig), Rumäne - das sei keine Nationalität, sondern ein Beruf.

Natürlich sind alle Generalisierungen unfair - es gibt genug ehrliche Rumänen (ebenso Letten, Polen, Slowaken usw.), die sich abrackern. Aber es gibt auch genügend historische Gründe, warum in diesen östlichen und südöstlichen Ländern der "Bakschisch" mit zum Geschäftsgebaren zählt. Wie sagte es doch ein profunder Kenner dieser Breiten: Wenn jeder weiß, daß jeder nimmt, dann ist die Korruption keine Korruption mehr - sie wird zum Teil des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.

Als neulich die Bukarester Ministerin für Europäische Integration, Hildegard-Carola Puwak, in Wien für einen künftigen EU-Beitritt ihres Landes warb, erwähnte sie stolz, Rumänien habe eine "Strategie zur Korruptionsbekämpfung auf nationaler Ebene" entwickelt. So habe man ein "Anti-Korruptionsgremium der Staatsanwälte" gebildet. Auf die Frage, wie viele Personen bereits wegen Korruption verurteilt wurden, gab die 53jährige rumäniendeutsche Reformkommunistin keine Antwort.

Geht man einen Schritt weiter nach Osten, in die Russische Föderation, wird das Bild noch dramatischer. 75 Prozent der russischen Staatsbeamten (insgesamt etwa zwei Millionen Personen) stehen unter dem Verdacht, korrupt zu sein. Bis zu sechzig Prozent der Finanzströme russischer Betriebe würden von korrumpierten und mafiösen Strukturen kontrolliert.

Die Vorstellung, man könnte durch Einwirkung von außen, sei es durch Zuckerbrot oder Peitsche, die EU-Aspiranten von ihren angestammten und historisch bedingten Verhaltensweisen abbringen, ist reichlich naiv. Diese östliche Korruption wird uns noch über Jahrzehnte begleiten. Und im übrigen - haben die angeblich so bibelfesten Westeuropäer nicht schön längst ihre eigene Korruption? Sie wirkt nicht so grobschlächtig wie ihr östliches Pendant. Aber sie wirkt.


 
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