© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002

 
Geburtshelfer einer neuen Welt
Herrschaft und Gestalt: Vor 70 Jahren erschien Ernst Jüngers Großessay "Der Arbeiter" / Versuch einer kritischen Würdigung
Matthias Falke

E s ist vielleicht kein Zufall, daß das Vorwort des Essays "Der Arbeiter" das Datum des 14. Juli 1932 trägt. Dieser Termin, der Jahrestag der Französischen Revolution, mußte dem Autor wie kein zweiter für die Inthronisation des Bürgertums als geschichtsmächtiger Kraft stehen. Es ist die übergeordnete These des Buches, daß der "Arbeiter" im Begriff steht, den Bürger als bestimmende geschichtliche Macht abzulösen. In dieser Grundaussage liegt allerdings auch schon der Keim des Mißverständnisses, das dem Buch in seiner nunmehr siebzigjährigen Wirkungsgeschichte anhaftet. Denn Jüngers "Arbeiter" ist überhaupt keine soziale Kategorie, sondern eine metaphysische Größe. Der "Arbeiter" als Gestaltbegriff ist eine außerzeitliche Macht. Sie "kommt im Universum nicht vor". Allerdings beginnt sie in die empirische Geschichte einzutreten. Ein Vorgang, den Jünger auch als Projektion aus dem zeitlosen in den kausalen Raum beschrieben hat. Von ihm handelt sein Buch, das im Herbst 1932 in der Hanseatischen Verlagsanstalt erschienen ist.

Zunächst ist "Arbeiter" nur ein Wort; Jünger verwendet es ausdrücklich als organischen Begriff, der Metamorphosen des Gemeinten durchlaufen kann. Die Sprache stellt ein Fenster dar, durch das ein neues Sein sichtbar werden und eintreten kann. "Arbeiter" meint das Eintretende und letztlich den Vorgang des Eintretens selbst. Der Blick macht die Dinge, und so ist es weniger eine neue Realität als ein neues Auge, das von der sich verändernden Geschichtswirklichkeit gefordert wird.

Jünger war ein Augenmensch, ein Meister der schärfsten Wahrnehmung. Zugleich hatte er eine Begabung, Phänomene in die Dinge hineinzusehen. So kann auch der Blick, der Gestalten sieht, immer nur deren Verkörperungen sehen. Diese verweisen auf die höhere metaphysische Kategorie, die sich in ihnen ausspricht. Dabei geht es um die Frage, wer die Interpretationshoheit darüber hat, was im Geschichtsprozeß eigentlich geschieht. Die Auffassung des Arbeiters als eines vierten Standes ist selbst ein Produkt der bürgerlichen Optik. Umgekehrt wird aus dem Blickwinkel dessen, der die Gestalt des "Arbeiters" dadurch konzipiert, daß er sie sieht, jede Klasse und jeder Stand zu einer mehr oder weniger typischen Ausformung des "Arbeiters".

Verhältnis zum Elementaren und Affinität zur Technik

Wodurch zeichnet sich der so verstandene "Arbeiter" aus? Jünger beschreibt, wie sich ein neuer Menschenschlag Bahn bricht, der Werkzeug eines neuen Weltverhaltens ist. Dieses ist durch ein Verhältnis zum Elementaren, durch eine tiefe Affinität zur Technik und durch eine Haltung der Bedürfnislosigkeit bestimmt - der ehemalige Soldat Jünger nennt sie "soldatisch"; er hätte auch "asketisch" sagen können.

Der "Arbeiter" hat ein Verhältnis zum Elementaren. Er hat noch Umgang mit den Elementen, besonders mit dem Feuer. Natürlich ist eine solche Aussage von der Erfahrung der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs inspiriert; wir sollten aber einen Augenblick bei der Tatsache innehalten, daß jeder von uns alltäglich mit Explosionsmotoren zu tun hat. Daß "Explosion und Präzision" keine Gegensätze sind, sondern in ihrem Ineinander Daseinsbedingung der modernen Technik, gehört zu den wesentlichen Einsichten von Jüngers Phänomenologie des "Arbeiters". Der Bürger hat demgegenüber ein Bedürfnis, sich hermetisch von aller Wirklichkeit abzuschotten.

Der "Arbeiter" hat ein besonderes Verhältnis zur Technik. Diese ist sein "Kleid" oder seine "Uniform". Arbeit in dem Sinne, wie sie den "Arbeiter" charakterisiert, ist überhaupt nichts anderes als Zu-tun-Haben mit Technik. Wenn gesagt wurde, daß sich im In-Erscheinung-Treten der Gestalt des "Arbeiters" eine neue Weise des Weltzugangs ausspricht, so ist es diese Weise der durch Technik vermittelten Weltaneignung. Im Augenblick der vollendeten Herrschaft der Gestalt des "Arbeiters" wird sie die einzige sein. Die Technik wird dann selbst zu einem Element, in dem der "Arbeiter" sich bewegt wie der Fisch im Wasser. Dann wäre so verstandene "Arbeit" allgegenwärtig geworden, Technik wäre ubiquitär, die Repräsentanz des "Arbeiters" in der Realität absolut, die Welt einem totalen Arbeitsvorgang unterworfen. Es gäbe dann keine politischen Klassen oder Stände mehr, die nicht "Arbeiter" wären, und es gäbe keinen Lebensbereich, der nicht vom "Arbeiter" und seiner speziellen Weltsicht geprägt würde. Es gibt keinen Unterschied von (erwerbsmäßiger) Arbeit und Freizeit mehr, da das gleiche Zu-tun-Haben mit Technik alle Lebensbereiche umfaßt.

Der "Arbeiter" zeichnet sich durch eine Haltung der Bedürfnislosigkeit aus. Dieser Aspekt scheint aus heutiger Perspektive am wenigsten einzuleuchten. Was hätte das Ideal der "soldatischen" Askese mit unserer Gesellschaft des postmodernen Hedonismus zu tun? Kennzeichen des Zeitalters des "Arbeiters" ist aber die völlige Verkehrung der bürgerlichen Maßstäbe von Luxus und Askese. Luxus ist nicht mehr der Besitz, sondern, so Jünger 1932, beispielsweise die Tatsache, auf den Besitz eines Wagens nicht angewiesen zu sein. Ein Umstand, der in der "Arbeitsdemokratie" immer weniger geduldet werden wird. Askese und "soldatische" Tugend ist Selbstaufopferung und vollständige Unterwerfung unter den geschichtlichen Prozeß; dieser kann ein militärisches Geschehen, er kann aber auch die totale Ökonomisierung und Technisierung des gesamten Lebens sein. "Askese" wäre demnach das völlige Aufgehen im Markt der Waren-, Arbeits- und Kapitalkreisläufe. Wie der "unbekannte Soldat" sich an einem unsichtbaren Frontabschnitt des Weltkriegs opferte - oder geopfert wurde -, so opfern wir alle unser eigentliches Selbst an der "Front" der globalen Bedürfniserweckungs- und Bedürfnisbefriedigungsmaschinerie.

Zur Zeit der Abfassung der Schrift sah Jünger den zerstörerischen Aspekt im Vordergrund. Die Weltkriege - den Zweiten sah er sich bereits deutlich abzeichnen - waren für ihn gigantische "Werkvorgänge" im Rahmen einer "Werkstättenlandschaft", in der der "Arbeiter" sich seine neue Welt errichtet. Die Bewegung strebt einer Nullinie zu, an der der Nihilismus den höchsten Grad erreicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg hält Jünger diese "Linie" im wesentlichen für passiert. Doch hat der "Arbeiter" bis zuletzt nicht aufgehört, ihn zu beschäftigen. Die Gestalt durchlief einen Gestaltwandel. Die zerstörerische Phase weicht einem neuen Aufbau.

In seinem Buch "An der Zeitmauer" von 1959, das sich als eine Fortführung des "Arbeiters" lesen läßt, beschreibt Jünger, wie wir in Prozesse von wesentlich größeren Dimensionen eintreten. Nicht nur löst der "Arbeiter" den Bürger oder die technische Zivilisation die Kultur des agrarischen Feudalismus ab, es endet auch nicht lediglich einer der tausendjährigen Zyklen, als deren Abfolge Spengler die Weltgeschichte beschrieben hatte, sondern wir treten insgesamt aus der Weltgeschichte aus und in erdgeschichtliche Zusammenhänge ein. Nicht eine neue Seite der Menschheitsgeschichte wird aufgeschlagen, sondern ein neues Kapitel der Evolution. Wir stehen in Vorgängen, die nur noch mit den Maßstäben der Geologie angemessen zu bestimmen sind.

Jüngers Chiffre für diesen Prozeß ist Antaios, der stärkste der Titanen, der als Sohn der Erdmutter Gaia für unbesiegbar galt. Der als Antaios aufgefaßte "Arbeiter" wird zum Geburtshelfer einer neuen Welt; "die Erde häutet sich". Neue Übergänge kündigen sich an. Der Blick geht über den "Arbeiter" und sein Zeitalter hinaus, das nur Vorbote einer neuen Epoche gewesen sein wird. Schon am 17. März 1943, im "Zweiten Pariser Tagebuch", hatte Jünger notiert: "Wenn das Haus eingerichtet ist, gehen die Mechaniker und die Elektrotechniker hinaus. Wer aber wird der Hausherr sein?"

Die Technik, indem sie ihrer "Perfektion" zustrebt, verliert ihren titanischen Charakter. "Ein Mückenflügel", heißt es in "An der Zeitmauer", "ist eine höhere Hervorbringung als alle bisherigen technischen Dinge". Inzwischen dürfen wir uns sagen, daß wir auch diese Herausforderung angenommen haben. Der Begriff dafür, der schon aus dem "Arbeiter" stammt und der zu Jüngers visionärsten gedanklichen Schöpfungen gehört, ist der der "organischen Konstruktion". Wie in der industriellen Technik Explosion und Präzision keine Gegensätze mehr sind, so sind auch in der Technologie, wie sie sich jetzt abzuzeichnen beginnt, organische und anorganische Formen zwei Seiten eines Geschehens, die stereoskopisch zusammengesehen werden müssen. Wir operieren in den innersten Keimen des Lebens und bauen Maschinen, deren Werkteile aus lebender Materie bestehen. In einer Welt, in der Viren als Zwischenträger bei der Herstellung von Nanostrukturen verwendet oder Ratten mit Hilfe von Gehirnimplantaten ferngesteuert werden, ist der Unterschied von organischer und anorganischer Welt offensichtlich im Schwinden begriffen. Computer, die aus DNS konstruiert sind, und intelligente Prothesen werden in absehbarer Zeit die Grenzen zwischen biologischem und technischem Kosmos weiter verwischen.

Das Philosophem von der organischen Konstruktion meint ursprünglich den Staat als ganzen. Dieser wandelt sich in dem Maße, wie er zu einem Abbild des totalen Arbeitscharakters wird. Eine organische Konstruktion entsteht nicht durch Willensentscheid, sondern sie organisiert sich selbsttätig wie ein Ameisenstaat. Die Wirtschaft als ganze wird zu einer organischen Konstruktion, aus der der Einzelne ebensowenig austreten kann, wie eine Zelle beschließen kann, den Organismus zu verlassen, von dem sie ein Teil ist. Der Staat ist nicht mehr ein Gebilde des abstrakten positiven Rechts, sondern ein technisch-organisatorisches Gesamt, das der Willkür, aber auch der Initiative des Einzelnen entzogen bleibt.

Das Schillern der Begriffe, die wesentlich darauf angewiesen bleiben, daß man "sieht", was gemeint ist, gehört zu Jüngers "stereoskopischer" Methode. Jünger legte Wert darauf, daß die "Gestalt" weder eine platonische Idee, noch der "Arbeiter" der Übermensch im Sinne Nietzsches sein solle. Am ehesten ließ er den Gestaltbegriff, den Goethe anläßlich der Urpflanze entwickelt hatte, gelten. Dazu gehörte auch immer ein gewisses Kokettieren mit dem Mißverstanden-Werden. In einem seiner letzten Interviews sagte er auf die Frage, ob das Buch der Machtergreifung der Nationalsozialisten vorgearbeitet habe, wie denn eine Schrift, die mehr als 60 Jahre nach Erscheinen noch nicht verstanden worden sei, wohl in wenigen Monaten eine solche Wirkung haben entfalten können. Von offizieller NS-Seite, im Völkischen Beobachter, hatte es zum "Arbeiter" jedenfalls geheißen, Jünger habe sich damit "in die Zone der Kopfschüsse vorgewagt".

Eine Denkfigur, die sich als scharfsichtige Vision erweist

Obwohl er sich immer wieder mit dem Gedanken einer Revision trug, nahm er den "Arbeiter" in der ursprünglichen Form in die erste Gesamtausgabe auf. Dennoch wäre es verfehlt, das Werk lediglich als biographisches Dokument gelten zu lassen. Was hier beschrieben wird, ist ein Prozeß der Anonymisierung, der mit allen liberalen Vorstellungen vergangener Tage aufräumt. In der Welt, die von der Gestalt des "Arbeiters" durchherrscht wird, findet "ein Höchstmaß an Aktion bei einem Minimum an Worum und Wofür" statt, das "Erlebnis" verliert seine Bedeutung zugunsten des totalen Arbeitscharakters, der Einzelne ist nicht unersetzbar, sondern "durchaus ersetzbar", "Verkehrsopfer fallen in einem moralisch neutralen Raum". Es frage sich jeder selbst, inwieweit dies eine zutreffende Beschreibung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, in der gar nicht mehr bestritten werden kann, daß "Freiheitsanspruch wesentlich Arbeitsanspruch" ist, und in der die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen mit den Erfordernissen einer Konsumwirtschaft glauben rechtfertigen zu können.

Der Einzelne kann die Frage, was denn "seine Sache" sein solle, gar nicht mehr anders stellen, als daß er sich darüber definiert, inwieweit er an der Produktions-, Konsum-, Verkehrs- und Kommunikationstechnik teilhat. Um nichts anderes geht es Jünger: Wer nach Feierabend U-Bahn fährt, mobil telefoniert oder am Internet-PC sitzt, ist im gleichen Maße Teil des Systems, wie er es tagsüber am Arbeitsplatz ist. Er leistet "Arbeit", und es gibt keinen Bereich der Lebenswirklichkeit, der dem entzogen bleiben könnte. Es ist der absolut gewordene Fordismus, der den Arbeiter zu gleichen Teilen als Produzenten wie als Abnehmer in Anspruch nimmt.

Heute wird diese Tatsache hinter Begriffen wie Kaufkraft, Binnennachfrage, privater Konsum und anderen verborgen. Insofern stellt der "Arbeiter" eine Denkfigur bereit, die weit über den Zeitpunkt ihrer Konzeption hinausweist und sich auch und gerade 70 Jahre nach ihrer Formulierung als scharfsichtige Vision herausstellt, die tief unter die Oberflächenprozesse unserer Gesellschaft hinunterreicht.

Bild: Ernst Jünger (um 1929), Gemälde von Rudolf Schlichter

 

Matthias Falke, MA, Jahrgang 1970, Studium der Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie; zahlreiche Zeitschriftenbeiträge; 1998 Veröffentlichung der philosophischen Monographie "Das Erlebnis" im Verlag Die Blaue Eule, Essen.


 
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