© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002

 
Schuld, die keine Vergebung kennt
Konrad Löw zieht in seiner profunden Analyse über die Rolle der Kirchen im NS-Regime andere Schlüsse als Goldhagen und Kertzer
Klaus Motschmann

W enige Monate nach dem Zusammenbruch Deutschlands im Jahre 1945 hat die vorläufige Leitung der evangelischen Kirche in Deutschland die bis heute viel-zitierte "Stuttgarter Schulderklärung" abgegeben. In dieser Erklärung ist in Gegenwart von Vertretern der Ökumene bekannt worden, daß die Kirchen beziehungsweise die Christen in Deutschland "durch falsches Reden und durch falsches Schweigen" schuldig geworden seien. Nach christlichem Selbstverständnis war damit angesichts der deutschen Katastrophe der erste notwendige Schritt zu einem Neuanfang getan.

Gleichwohl sind gegen diese Erklärung von Anfang an erhebliche Bedenken geäußert worden - nicht aus Unbußfertigkeit, sondern aus den Erfahrungen der Kriegsschuld-Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Urteil des Nestors der deutschen politischen Soziologie, Max Weber, befaßte sie sich "mit politisch sterilen, weil unaustragbaren Fragen der Schuld in der Vergangenheit. Dies zu tun, ist politische Schuld, wenn es irgendeine gibt". Dabei ging es Weber nicht allein um die "unvermeidliche Verfälschung des ganzen Problems durch sehr materielle Interessen" - sowohl des Siegers am höchstmöglichen Gewinn als auch des Besiegten, durch Schuldbekenntnisse Vorteile einzuhandeln. Ihm ging es vor allem um die Bewahrung und Verteidigung einer in zwei Jahrtausenden gewachsenen Erkenntnis: "Wir müssen uns klarmachen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: Es kann 'gesinnungsethisch' oder 'verantwortungsethisch' orientiert sein. Es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt - religiös geredet -: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim'; oder unter der verantwortungsethischen: Daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat."

Es bleibe in diesem Zusammenhang dahingestellt, ob es sich die Verfasser und Unterzeichner der "Stuttgarter Erklärung" die reichen Erfahrungen des Mißbrauchs politischer Schulderklärungen hinreichend klargemacht haben. Tatsache ist, daß sie bis heute als Kronzeugen für eine gründlich ideologisierte Vergangenheitsbewältigung mißbraucht werden können, weil sie entscheidende Stichworte für das "falsche Reden" über das vermeintlich "falsche Schweigen" der Kirchen beziehungsweise der Christen im nationalsozialistischen Deutschland geliefert haben, in denen von Schuldbekenntnissen sehr viel und immer mehr, von Schuldvergebung kaum und immer weniger die Rede ist. Auf diese Weise wird das abendländische Rechts- und das christliche Moralverständnis systematisch zersetzt, wobei es inzwischen relativ belanglos ist, ob dies bewußt oder unbewußt geschieht. Es geschieht!

Damit ist das Thema der jüngsten Publikation Konrad Löws angesprochen. Er ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit fundierten, umfassenden Darstellungen zur Theorie und Praxis des Sozialismus in seinen diversen Erscheinungsformen hervorgetreten. Dazu gehört vor allem der Kampf gegen die Religion und Kirche. "Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik" lautet ein bislang nicht widerrufener Kernsatz des Sozialismus. Insofern handelt es sich bei dem angezeigten Buch Konrad Löws um eine folgerichtige Fortsetzung seiner bisherigen Arbeiten, obwohl sich in ihm keine direkten Ausführungen zum Verhältnis von Sozialismus und Kirche finden.

Dafür gibt es taktisch bedingte Gründe: Die Zeiten traditioneller, aggressiver Agitation und Aktionen gegen Kirche und Religion sind seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme (vorerst) vorbei. An ihre Stelle ist die sehr viel sublimere und dadurch wirksamere Kritik am "Versagen" der Kirchen im Dritten Reich getreten, die in den Kirchen selber oder aber von Publizisten, Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen und Schriftstellern bis heute geübt wird. Musterbeispiele dieser Art von Vergangenheitsbewältigung sind das Schauspiel Rolf Hochhuths "Der Stellvertreter" (1963) und der Film "Amen" (2001), die eine verwirkende Diskussion und hemmungslose Agitation ganz anderer Art bewirkt haben. Die publizistische Breitenwirkung dieser neuerlichen "Volksaufklärung und Propaganda" erklärt sich sehr einfach daraus, daß der zentralen Aussage vom "Versagen" der Kirchen im Dritten Reich wegen ihres vermeintlichen Schweigens zu den Verbrechen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zunächst einmal nicht zu widersprechen ist. Die Kirchen haben zwar nicht geschwiegen, sie haben aber tatsächlich nicht entschieden genug protestiert. Nur - und hier sollten zunächst einmal ganz naheliegende Fragen gestellt werden: Wer hat eigentlich laut und vernehmlich und mit einigem Erfolg protestiert, und zwar in Deutschland und nicht vom sicheren Ausland aus? Warum haben beispielsweise die Gewerkschaften Anfang 1933 nicht zu einem Generalstreik wie im Jahre 1920 aufgerufen; warum die Kommunisten nicht zu einem bewaffneten Aufstand wie 1923? Warum hat das deutsche PEN-Zentrum nicht zu Massenkundgebungen in deutschen Großstädten aufgerufen und warum haben demokratisch gewählte Parteien im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zugestimmt? Zu diesen Fragen kommt man konsequenterweise, wenn man sich für einen Augenblick auf den Standpunkt der antiklerikalen Gesinnungsethiker stellt. Spätestens seit der mutigen Reichstagsrede von Otto Wels (SPD) im März 1933 gab es gute Gründe, die Art und Weise des politischen Widerstandes hinsichtlich der absehbaren Konsequenzen sehr genau zu überdenken. Dies haben auch die Verantwortlichen in den Kirchen getan, zumal es weder moralische noch rechtliche Rechtfertigungen einer "Drängelei zum Martyrium" gibt, wie Konrad Löw in einer grundsätzlichen Betrachtung feststellt. Wenn es also in einem sehr formalen Sinne zutrifft, daß die Kirchen wegen der angedeuteten Gründe nicht entschiedener als heute erwartet gegen die Rechtsbrüche des Dritten Reiches protestiert haben, so darf daraus nicht die denunziatorische Schlußfolgerung gezogen werden, daß die Kirchen "geschwiegen" hätten, womöglich mit dem Hinweis, daß "Schweigen Zustimmung bedeutet". Konrad Löw weist anhand einer Fülle von ausführlich zitierten und kommentierten Dokumenten vornehmlich der katholischen, aber auch der evangelischen Bekennenden Kirche nach, daß davon nur in ideologischer Verblendung und in agitatorischer Absicht die Rede sein kann. Daß diese Erklärungen der katholischen Kirche gegen die nationalsozialistische Weltanschauung, insbesondere gegen die Rassenlehre, von der Bevölkerung sehr wohl verstanden wurden, beweist der konstante Stimmanteil des Zentrums von etwa 15 Prozent bei allen Wahlen der Weimarer Republik einerseits, der deutlich geringere Stimmenanteil der NSDAP in überwiegend katholischen Gebieten andererseits. Löw weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß selbst jüdische Vertretungen und Zeitungen dazu aufgerufen haben, das Zentrum als einen zuverlässigen Stützpfeiler der Weimarer Demokratie - und damit eines Bollwerkes gegen den Nationalsozialismus - zu wählen.

Hitler war sich dieser Tatsachen sehr wohl bewußt und kam deshalb auch zu einem erheblich anderen Urteil über das Verhalten der katholischen Kirche zum Dritten Reich als die heutigen Kritiker nach 60 Jahren. Auch dazu breitet Löw eine Fülle von Dokumentationen aus, die das inzwischen weithin in Vergessenheit geratene Ausmaß der Verfolgung der Kirchen veranschaulichen. Allein in Deutschland sind ihr über 1.000 Priester und Ordensleute zum Opfer gefallen, in den von Deutschland besetzten Gebieten weitere 3.000. Viele von ihnen sind nicht wegen lauter Proteste, sondern wegen aktiver Unterstützung und Hilfe für verfolgte Juden hingerichtet worden.

Der jüdische Historiker und Theologe Pinchas Lapide hat bereits in den sechziger Jahren in seinem Buch "Rom und die Juden" die Zahl der von der katholischen Kirche geretteten Juden in Europa mit wenigstens 700.000 beziffert, was nur möglich war, weil die Kirche in bestimmten Situationen "geschwiegen" hat, um handeln zu können. In diesem Zusammenhang gehört die Erinnerung, daß die holländischen Bischöfe im Sommer 1942 in der heute gewünschten Deutlichkeit gegen den Abtransport der holländischen Juden in deutsche KZ's protestiert haben, damit aber die Aktion verschärft und beschleunigt haben.

Bereits im letzten Jahr veröffentlichte der amerikanische Sozialwissenschaftler David Kertzer in seinem Buch "Die Päpste gegen die Juden", in der er eine Kausalkette zwischen der christliche Kritik am bzw. die theologisch motivierten Angriffe gegen das Judentum und Auschwitz zog. Rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse erschien eine neue, schon jetzt bekanntere Publikation des amerikanischen Historikers Daniel Goldhagen zum Thema "Die katholische Kirche und Auschwitz". Man folgt nicht der um sich greifenden Unsitte, unveröffentlichte Bücher zu beurteilen, wenn man feststellt, daß mit Konrad Löws umfassender und wissenschaftlich fundierter Darstellung ein gewichtiger Beitrag zu einem (voraussichtlich) neuen Kapitel der Dauerauseinandersetzung um die "Schuld" des deutschen Volkes - diesmal mit dem Schwerpunkt "katholische Kirche" - vorliegt. Vor allem die vielen "willigen Helfern" einer neuerlichen Kampagne gegen die Kirchen sollten versuchen, sich aus dem Bannkreis ideologischer Vor-Urteile zu lösen und sich ein selbständiges Urteil im Sinne Rankes zu bilden, "wie es eigentlich gewesen ist" - auch eingedenk der Mahnung "Wider das Vergessen".

Foto: Sieben der zwölf EKD-Ratsmitglieder, die die Stuttgarter Erklärung 1945 unterzeichneten (von links: Martin Niemöller, Wilhelm Niesel, Theophil Wurm, Hans Meiser, Heinrich Held, Hanns Lilje, Otto Dibelius): Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht klar getrennt

Konrad Löw: Die Schuld - Christen und Juden im Urteil der Nationalsozialisten und der Gegenwart. Resch Verlag, Gräfeling 2002, 355 Seiten, geb., 24 Euro


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen