© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
Das Ende aller Sicherheit
Der Krieg der Kulturen, Zivilisationen und Religionen ist längst ausgebrochen
Carl Gustaf Ströhm

Heutzutage ist das Wort "Sicherheit" in aller Munde. Ohne Sicherheit, so scheint es, geht gar nichts mehr. Man spricht von militärischer oder sozialer Sicherheit. Es gibt einen "Weltsicherheitsrat", der sich wie eine Vorstufe einer künftigen Weltregierung ausnimmt - vor der uns das Schicksal bewahren möge. Es gibt "Sicherheitskonferenzen" und seit einiger Zeit die "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa".

Dennoch beschleicht den skeptischen Betrachter das Gefühl, daß Europa und die Welt in den vergangenen Jahren keinesfalls "sicherer" geworden sind. Es bedurfte nicht erst der Terrorakte des 11. September, um die Verwundbarkeit der "zivilisierten Welt" drastisch sichtbar zu machen. Der Anschlag auf der indonesischen Insel Bali war ein weiteres Menetekel, das inzwischen von einer noch schrecklicheren Katastrophe übertroffen wurde: Das Geiseldrama von Moskau.

In der Hauptstadt der Russischen Föderation, die sich noch immer als Kern eines "Russischen Reiches" versteht, haben die Vorgänge rund um das von einem tschetschenischen Selbstmordkommando besetzte Musical-Theater das Ende aller Sicherheit besiegelt - und zwar bis in den persönlichen Lebensbereich eines jeden einzelnen Menschen. Hinfort kann überall auf der Welt jeder harmlose Theaterbesuch, jede Teilnahme an einer Fußballmeisterschaft in einem überfüllten Stadion, jeder Besuch eines Einkaufszentrums, ein tödliches Unterfangen sein.

Der Staat, die Polizei - wer will da noch von "Sicherheitskräften" sprechen - kann die Sicherheit der Bürger letztlich nicht mehr garantieren. Weder die Methoden des Westens, noch die weitaus brutalere Vorgehensweise Rußlands haben irgendeinen Erfolg im Sinne der Prävention gebracht. Im Gegenteil. Das Moskauer Beispiel zeigt, daß wir mit einer neuen "Qualität" der Terrorismusbekämpfung konfrontiert sind: Der Staat - in diesem Falle der russische Staat (in Zukunft aber könnte es auch jeder westliche sein) greift im Kampf gegen den Terrorismus zu brutalen Mitteln des Gegenterrors, der dazu führt, daß ein großer Teil der Opfer, also der Geiseln, die man ja eigentlich "schützen" wollte, durch staatliche Gewaltmittel - etwa durch Einsatz eines Giftgases - selber qualvoll zu Tode kommt. Auf das einzelne Menschenleben, auf Kinder, Frauen oder "privilegierte" Ausländer will und kann die staatliche Vernichtungsmaschinerie keine Rücksicht nehmen.

Schlimmer noch: Jene staatlichen Gewaltmaschinerien, die zur "Befreiung" der Geiseln aufgeboten werden, sind in gewisser Hinsicht selber Verursacher jenes Terrors, den sie zu bekämpfen vorgeben. In diesem Sinne waren die russischen Spezialeinheiten, die nach dem Motto verfuhren "Operation gelungen, viele Patienten (Geiseln) tot," selber Teil des Problems - und nicht Teil seiner Lösung.

Es stellt sich die Frage: Was bewegt Angehörige eines kleinen Volkes dazu, seit Jahrzehnten mit allen Mitteln gegen die Zentralgewalt - in diesem Falle Moskaus - zu rebellieren? Ist der Terror der Tschetschenen nicht eine verzweifelte Reaktion auf die systematische Ausrottungspolitik und den ethnischen Krieg, mit dem Moskau die Unterwerfung eines Volkes erzwingen will, welches um keinen Preis unter russischer Oberhoheit leben will? Ließe sich das ganze tschetschenische Problem nicht nach dem Prinzip des Eies des Columbus lösen: Man gebe den Tschetschenen Unabhängigkeit und einen eigenen Staat - und schlagartig würde der Terror aufhören?

Vielleicht wäre eine solche Lösung zu schön, um wahr zu sein, aber einen Versuch wäre sie wert. Das bedeutet keine wie immer geartete Billigung von Geiselnahme, Terror oder Selbstmordkommandos. Doch sollte man sich wieder an das scheinbar vergessene Gesetz von Ursache und Wirkung erinnern. Druck erzeugt Gegendruck und Gewalt wieder Gegengewalt. Das gilt für Israel und Palästina ebenso wie für Tschetschenien und Rußland. Das führt zur Frage, ob nicht Huntingtons Krieg der Kulturen, Zivilisationen und Religionen längst ausgebrochen ist und sich jetzt bis in unseren scheinbar "sicheren" westlichen Alltag ausdehnt. Mit Brutalität alleine wird sich dieser Krieg nicht gewinnen lassen - es sei denn, man sprengt gleich die ganze Erde in die Luft.

Das Bild ist grotesk: Noch bevor die Toten von Moskau, Bali, New York erkaltet sind, preisen die großen Machthaber der Welt den "Krieg gegen den Terror" als Universalheilmittel - und die nicht ganz so mächtigen zitieren die (politisch "unkorrekte") Maxime: "Wo gehobelt wird, da fallen Späne". Pech ist es, wenn man als Musical-Besucher zu besagten Spänen gehört oder mit unabsehbaren Spätschäden in einem Moskauer Spital liegt.

Noch eine "Kleinigkeit" sollte zumindest diskutiert werden: Wenn es stimmt, daß ein großer Teil der durch Gas betäubten tschetschenischen Terroristen - vor allem die Frauen unter ihnen - von russischen "Spezialisten" durch Genickschuß "liquidiert" wurden, (Stalin läßt grüßen), dann ist das kein ermutigendes Zeichen für Rechtsstaat und Demokratie in Rußland.

Wer weiß, ob nicht auch in westlichen Gefilden im Überschwang des Kampfes gegen den Terrorismus Demokratie, Toleranz und persönliche Freiheit zum Handkuß kommen. Das Ende aller Sicherheit: Ist das der Preis, den wir werden zahlen müssen?


 
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