© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
Pogromstimmung liegt in der Luft
Tschetschenien: Nach dem Terrorakt von Moskau ist mit einer Verschärfung des Konflikts zu rechnen
Marco Abrarov

Der Anführer der Moskauer Geiselnehmer, Mowsar Barajew, war von den russischen Sicherheitsbehörden eigentlich schon vor zwei Wochen für tot erklärt worden. Der 24jährige tschetschenische Clanführer sei bei Kämpfen getötet worden, teilte das russische Kaukasus-Kommando am 12. Oktober mit. Kurz darauf kommandierte der Totgesagte aber jene Gruppe von Terroristen, die mitten im Zentrum der russischen Hauptstadt - im früheren "Kulturpalast des Moskauer Kugellagerwerkes Nr.1" - über 700 Besucher des Musicals "Nord Ost" in ihrer Gewalt hielten und so die Vorgänge im Kaukasus ins Bewußtsein riefen.

Tschetschenien - das Palästina des Ostens? So einfach ist das Ganze nicht. Als Dschochar Dudajew - Führer des Tschetschenischen Nationalkongresses und General a.D. der sowjetischen Luftwaffe - 1991 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Tschetschenien, deren Bevölkerung damals immerhin zu 25 Prozent aus Russen bestand, einseitig für unabhängig erklärte, waren auch viele Tschetschenen gegen diese Politik. Andere nutzten die Wirren, um ihre eigenen Geschäfte zu machen: mit Drogen, Waffenschmuggel, Entführung - das kleine Bergland entwickelte sich zum Tummelplatz für Mafiagruppen, die auch die Kontrolle über die Ölpipelines und Raffinerien übernahmen. Im Dezember 1994 marschierten auf Befehl des damaligen Präsidenten Boris Jelzin russische Truppen ein - der erste Tschetschenienkrieg begann. Am 22. August 1996 vereinbarte der russische Tschetschenien-Beauftragte, Ex-General Alexander Lebed, mit den Rebellen einen Waffenstillstand und den Abzug der Truppen aus der Hauptstadt Grosny. Am 31. August wird eine Grundsatzerklärung zur Beilegung des Konflikts unterzeichnet und der Krieg nach 20 Monaten Dauer für beendet erklärt.

Doch danach versank das Land im Chaos, verschiedene Clans steckten ihre Territorien ab, arabische Terroristen entdeckten das Land als neue Aktionssphäre. Nach dem Überfall tschetschenischer Rebellen auf die benachbarte Russische Föderationsrepublik Dagestan sowie den Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgodonsk beginnt im Dezember 1999 eine neue russische Offensive, die erst im Februar 2000 mit der Eroberung der Rebellenbastion in Schatoi im Argun-Flußtal endet. Per Erlaß stellt Präsident Wladimir Putin Tschetschenien im Juni 2000 unter seine direkte Verwaltung.

Mowsar Barajew und seinesgleichen als "Freiheitskämpfer" oder "Islamisten" zu bezeichnen, wird dem Konflikt nicht gerecht. Ob eine Mehrheit der Tschetschenen wirklich eine Abspaltung von der Russischen Föderation will, ist unklar. Immerhin wurde 1997 der als gemäßigt geltende Aslan Maschadow zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Erst im Laufe seiner Amtszeit ließ er sich zunehmend von den "Rebellen" einnehmen. Selbsternannte "Feldkommandeure" wie der aus Jordanien stammende Abu Chattab oder Schamil Bassajew, der 1996 mit einer ähnlichen Geiselnahme in einem Krankenhaus (damals mehr als 200 Tote) traurige Berühmtheit erlangte, übernahmen die Macht.

Noch 1999 hatte Maschadow gegenüber der Deutschen Welle eingeräumt: "Bassajew hat mit dem Überfall auf Dagestan im vergangenen Sommer den Krieg mit Rußland provoziert". Ein letzter Auftritt vor der Kamera zeigte Maschadow jedoch mit arabischen Emblemen, was darauf schließen läßt, wer inzwischen - zumindest finanziell - hinter ihm steckt.

Wenn Rußland alle tschetschenischen Rebellen als Terroristen bezeichnet, mag das zum Teil Propaganda sein, es entbehrt aber nicht eines wahren Kernes. Der Mufti von Rostow am Don, Dschafar Zufarow, erklärte, Barajew sei kein islamischer Fanatiker gewesen: "Er war ein Schwindler, ein Verbrecher, der Geld mit Entführungen, Mord und Terrorismus machte". Im Juni 2001 übernahm Barajew das Kommando über die Bande seines getöteten Onkels Arbi Barajew, der jahrelang seinen "anti-russischen Kampf" mit Entführungen finanzierte. 1998 entführte seine Gruppe drei britische und einen neuseeländischen Ingenieur. Als die Lösegeldverhandlungen mit dem britischen Telekomkonzern ins Stocken gerieten, schlug man den entführten Ausländern einfach die Köpfe ab. Diesen Juni ermordete Mowsar Barajew einen anderen gegen Rußland kämpfenden Kommandeur, Riswan Achmadow; dabei soll es um 45.000 US-Dollar gegangen sein.

Demnächst sollten in Tschetschenien Präsidentschaftswahlen stattfinden, ob daraus etwas wird, ist fraglich. Rußland sähe gerne den muslimischen Geistlichen Achmed Kadyrow, einen pro-russischen Tschetschenen, als neuen Präsidenten. Der erklärte kürzlich: "Ich habe Saudi-Arabien und andere reiche arabische Staaten, die Gelder für die Terroristen bereitstellen, um Gespräche gebeten. Denn Maschadow und seinesgleichen führen keinen Dschihad, sondern sie spielen mit dem Schicksal eines ganzen Volkes, während ihre Kinder wohlbehütet im Ausland leben. Meine Familie lebt in Tschetschenien. Ich weiß, wer die wirklichen Verräter des tschetschenischen Volkes sind. Ich nenne hier nur Aslan Maschadow, der während seiner Amtszeit nichts getan hat, um einen Staat aufzubauen und dazu noch einen Krieg angestiftet hat. Ich bin ein tschetschenischer Patriot."

Am meisten unter dem Bürgerkrieg und der Präsenz des russischen Militärs leidet die tschetschenische Bevölkerung: Die Rebellen sprengen Gebäude der Regionaladministration, sie verüben zahlreiche Anschläge auf Verwaltungschefs der Städte, Dörfer oder Gebiete, oft ommen dabei auch Zivilisten um.

Die russische Seite verfährt kaum anders: in den Trümmern einer Datschensiedlung unweit des Hauptstandorts der Russischen Armee in Chankala (Vorort von Grosny), wurden 50 Leichen entdeckt - Opfer "außergerichtlicher Hinrichtungen". Die Mehrzahl trug Spuren von Folter. Vertreter der russischen Staatsmacht haben vor einem Jahr versprochen, sorgfältige Untersuchungen anzustellen. Im März 2002 teilte der Oberste Militärstaatsanwalt mit, man habe wegen 129 Straftaten ermittelt, die von Militärs gegen die Zivilisten begangen wurden. 30 Verantwortliche seien bislang verurteilt, weitere 44 Ermittlungen abgeschlossen.

Unlängst hatte die Armeeführung daher eine neue Order herausgegeben: den Militärangehörigen wurde verboten, Masken zu tragen und sie wurden aufgefordert, mit der Zivilbevölkerung zu kooperieren und human zu verfahren, um so Grundlage für Vertrauen und Zusammenarbeit zu bilden und damit einen Zulauf zu den Rebellengruppen zu verringern.

Seit Jahrhunderten dominieren Familienclans das Zusammenleben der schätzungsweise eine Million Tschetschenen. Seit mindestens fünf Jahren werden diese Clans von außerhalb mit "islamischer Ideologie" und finanziellen Mitteln unterstützt - und benutzt. Die liberale und Putin-kritische Duma-Abgeordnete Irina Chakamada, die mit den Geiselnehmern im Theater sprach, um die Freilassung der Kinder zu erreichen, gab nachher zu Protokoll, daß die Terroristen keine eigene Entscheidungen träfen, sondern sich absprechen müßten und Befehle per Telefon empfingen.

Viele Tschetschenen - allein in Moskau leben über 100.000 - zeigten sich entsetzt über die Tat der Barajew-Gruppe: Dutzende tschetschenische Männer boten sich sogar selbst als Geiseln an.

Doch inzwischen liegt in Rußland Pogromstimmung in der Luft. Im Gebiet Twer mußte eine Bürgerwehr aufgelöst werden, die über eine dortige Siedlung von mehreren hundert Tschetschenen herfallen wollte. Die russische Miliz, oft nicht zimperlich im Umgang mit "Personen kaukasischer Nationalität", richtete ein Krisentelefon ein, wo "rassistische Übergriffe" gemeldet werden können. Präsident Putin appellierte an sein multiethnisches Staatsvolk, Ruhe zu bewahren: Rassenhaß sei genau das, was die Terroristen provozieren wollen. Beim Freitagsgebet in der Zentralmoschee von Moskau rief der Vorsitzende des russischen Muftirats, Scheich Rawil Gajnutdin, zu Ruhe und Frieden auf.

In dem Konflikt, der laut Nato bereits etwa 20.000 russischen Soldaten und über 100.000 Tschetschenen das Leben gekostet hat, kann es keinen militärischen "Sieg" geben. Es muß verhandelt werden, aber mit wem? Mit dem entmachteten Präsidenten Maschadow, wie anläßlich des "Tschetschenischen Weltkongresses" in Kopenhagen angeboten?

Bislang hat der Kreml jegliche Kontakte mit der einstigen Hoffnungsträger und jetzigem "Rebellenführer" offiziell abgelehnt. Auch ist Maschadows Autorität unter den ebenso radikal-islamischen wie geschäftstüchtigen tschetschenischen "Warlords" keineswegs unbestritten. Daher ist mit einer weiteren Verschärfung des Konflikts zu rechnen.

Terroristenführer Mowsar Barajew (r.): Anti-russischer Kampf wird auch mit Entführungen finanziert


 
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