© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Perspektiven
Karl Heinzen

Das Ergebnis der türkischen Parlamentswahlen sollte alle diejenigen beschämen, die der parlamentarischen Demokratie besserwisserisch vorwerfen, sie sei zu einer fundamentalen Erneuerung nicht in der Lage. Offenkundig ist es nicht sie, die auf die Anklagebank gehört, sondern der Wähler, der seine Chancen nicht zu nutzen weiß. Auch in den alten Demokratien des Westens ist es institutionell keineswegs ausgeschlossen, daß die Bürger Politiker, denen sie nicht mehr trauen, in die Wüste schicken und im Bedarfsfall sogar eine ganz neue Parteienlandschaft entstehen lassen. Dies unterbleibt jedoch, weil sich die Menschen entweder ohnmächtig fühlen oder aber Angst haben, eine zwar unpopuläre, im Ausmaß ihres Scheiterns aber berechenbare politische Klasse gegen neue Gesichter einzutauschen, die, wenn ihre Motive nachvollziehbar sein sollten, auch nur die eigene Bereicherung im Sinn haben dürften.

Den mündigen Staatsbürger, der sich seiner Bedeutung gewiß und seiner Verantwortung bewußt ist, diesen Idealtyp des modernen demokratischen Verfassungsstaates, findet man heute nicht in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien - und längst auch nicht mehr in Polen, Ungarn oder Rumänien. Man findet ihn in der Türkei. Wo bei uns die Wähler ihren Zynismus und das Desinteresse an der Politik artikulieren, bringen sie zwischen Bosporus und Euphrat den Volkswillen zum Ausdruck. Die Demokratie, auf die der Westen einst so stolz war, hat eine neue Heimat gefunden.

Es ist evident, daß auf diese Weise den Gegnern einer Integration der Türkei in die Europäische Union die Argumente ausgehen. Diesen Beitrittskandidaten weiter zu vertrösten wäre nunmehr sogar das fatale Signal, daß unser Glaube an unsere Ideale nicht mehr ungebrochen ist. Dies ist in einer Zeit, in der die Weichen für die Machtkonstellationen des 21. Jahrhunderts gestellt werden, nicht zu verantworten.

Die Europäische Union ist keine Bündelung von Interessen, keine bloße Zweckgemeinschaft, die man etwa auch gegen die USA in Stellung bringen könnte, um in kleinlichen Auseinandersetzungen egoistische ökonomische Ziele durchzusetzen. Die Europäische Union ist vielmehr eine Wertegemeinschaft, die Maßstäbe für das Zusammenleben der Menschen setzen und behaupten will. Als solche darf sie sich aber nicht an geographische Grenzen gebunden fühlen. Sie muß offen sein für alle, die zu ihr gehören, wo immer sie auch leben mögen. Die Demokratien Nord- oder Westafrikas dürfen auf lange Sicht genauso wenig ausgegrenzt werden wie jene zentralasiatischen Republiken, die ja schon zuverlässige Partner der Nato geworden sind. Manche von ihnen werden das Selbstvertrauen in ihre demokratische Zukunft erst entwickeln können, wenn wir ihnen diese Perspektive bieten. Sicherlich ist die Offenheit der Europäischen Union nur glaubwürdig, wenn sie sich nicht übernimmt, sondern dem zweiten Schritt den ersten vorangehen läßt. Dieser aber ist die Integration der Türkei.


 
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