© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002


"Die Sowjets hinterm Tannbach"
Arndt Schaffner über sein Engagement für die deutsche Einheit, die kuriose Teilung von Mödlareuth und den Fall der Mauer
Moritz Schwarz

Herr Schaffner, Sie sind geschäftsführender Leiter des Deutsch-Deutschen Museums in Mödlareuth. Nicht nur für Berlin, auch für das fränkische Bauerndorf Mödlareuth, 15 Kilometer nördlich von Hof gelegen, hat der 9. November 1989 - dessen 13. Jahrestag am kommenden Samstag zu begehen ist - eine besondere Bedeutung.

Schaffner: Das ist richtig, auch wenn unser "9. November" genau genommen der 9. Dezember war. Aber der 9. November 1989 bedeutete natürlich auch für uns das Ende der Teilung. Denn was den meisten Deutschen unbekannt ist, Berlin war nicht die einzige Stadt, die die Mauer in zwei Teile riß. Wie durch Berlin, lief die Mauer auch quer durch unser Dorf. Mödlareuth ist freilich ein winziger Flecken, mit nur gut 50 Einwohnern, dennoch trennte die Mauer auch hier die Menschen einer Gemeinde, trennte Familien und Freunde.

Die innerdeutsche Grenze wurde entlang der alten Ländergrenzen gezogen, wie konnte es da zur Teilung des Dorfes kommen?

Schaffner: Mödlareuth ist schon seit jeher geteilt, der Westteil gehörte zunächst zu Brandenburg, mit der napoleonischen Neuordnung Deutschlands kamen wir zum Königreich Bayern. Die Osthälfte des Dorfes gehörte dagegen zum thüringischen Fürstentum Reuß. Früher hat man gerne Gewässer zur Grenzmarkierung genutzt und die Grenze verlief seit alters her entlang des Tannbaches, über den das Dorf mit der Zeit hinauswuchs. Es konnte damals ja niemand ahnen, daß sich wegen dieser jahrhundertealten Grenzziehung einmal eine Mauer durchs Dorf ziehen würde, die den Osten der Welt vom Westen der Welt trennt.

Also handelt es sich seit jeher um zwei Dörfer?

Schaffner: Nein, es gab zwar - der politischen Teilung geschuldet - in der Tat zwei Verwaltungen für das Dorf: Thüringisch-Mödlareuth war bis Ende des Zweiten Weltkrieges mit einem eigenen Bürgermeister eigenständig, Bayerisch-Mödlareuth gehörte zur Gemeinde Töpen. Aber das Dorf war bis zur deutsch-deutschen Teilung immer eine soziale Einheit. Das heißt, man feierte gemeinsame Dorffeste, besuchte das gemeinsame Dorfwirtshaus, stellte eine gemeinsame Feuerwehr, unterhielt eine gemeinsame Dorfschule und besuchte sonntags gemeinsam die Kirche in Töpen. Doch auf einmal fand die Konfrontation der Blöcke mitten in Mödlareuth statt. Zunächst gab es noch einen Zusammenhalt durch den sogenannten "kleinen Grenzverkehr", aber Ende Mai 1952 untersagte der Beschluß des DDR-Ministerrates den Grenzübertritt in beide Rich-tungen. Damit war unser Dorf zum ersten Mal wirklich getrennt.

Wie reagierten die Menschen darauf?

Schaffner: Das war natürlich schlimm, zum Beispiel gab es zwei Brüder, der eine lebte im thüringischen Dorfteil, der andere im bayerischen, die plötzlich durch Stacheldraht und einen Bretterzaun voneinander getrennt waren. Oder es gab eine Müllersfamilie, deren Mühle direkt an der Grenze stand, man konnte das Haus in Thüringen betreten und in Bayern wieder verlassen. Mitte Juni 1952 rollten LKW mit Volkspolizei an, um die Familie zwangsweise auszusiedeln. Durch den Stall entkam die Familie im letzten Augenblick in die Bundesrepublik Deutschland. Im Zuge der berüchtigten "Aktion Ungeziefer", der Aussiedlung all jener Grenzbewohner, die die DDR-Machthaber als politisch unzuverlässig einstuften, wurden in Mödla-reuth mehrere Familien weit ins Hinterland der DDR ausgesiedelt.

Hatten die Menschen es für möglich gehalten, daß ihr Dorf tatsächlich zerteilt werden würde?

Schaffner: Das war damals natürlich nicht so ohne weiteres vorstellbar, aber man muß sich immer vergegenwärtigen, daß die totale Trennung ja nicht vom Himmel gefallen ist, sondern sich langsam entwickelt hat. Erst waren es nur zwei Besatzungszonen, 1949 zwei deutsche Staaten, 1952 wurde der Grenzübertritt verboten und erste, noch überwindbare Sperranlagen errichtet, und erst 1966 wurde in Mödlareuth die Mauer gebaut. Allerdings hatten auch die Alliierten zunächst ihre Schwierigkeiten mit dem Fall Mödlareuth. So hatten die Sowjets, entgegen des Besatzungsstatutes, nach der Räumung Thüringens durch die Amerikaner irrtümlich ganz Mödlareuth besetzt. Entweder konnten es die amerikanischen Offiziere beim Abzug selbst nicht glauben, daß das Dorf geteilt werden sollte, oder sie saßen einem Kartenfehler auf. Wir haben das trotz Nachforschungen unseres Museums bis heute nicht endgültig klären können. Auf jeden Fall bemerkte man erst nach einem Jahr den Fehler, und die Rote Armee mußte sich im Sommer 1946 wieder hinter den Tannbach zurückziehen.

Schaffner: Durchaus, denn Berlin und Mödlareuth waren die einzigen Orte, die schlichtweg in der Mitte geteilt worden sind. Durch diesen Mauerbau wurde Mödlareuth auch unter dem Namen "Klein-Berlin" populär.

Wie gestaltete sich das Leben der DDR-Mödlareuther, die ja in einem Sperrgebiet lebten, denn die Grenzsperren an der innerdeutschen Grenze reichten schließlich bis zu fünf Kilometer tief ins Hinterland?

Schaffner: Die Mödlareuther im Ostteil waren nicht nur nach Westen abgesperrt, sondern auch nach Osten, wo in ihrem Rücken ebenfalls Sperrzäune verliefen. Um sozusagen in ihr eigenes Land zu kommen, mußten sie zwei Kontrollpunkte passieren. Andererseits versuchte man den Menschen im Sperrgebiet, durch Lohnzuschläge, eine etwas höhere Rente und, nach Möglichkeit, durch eine etwas bessere Güterversorgung das Leben angenehmer zu machen.

Auf der anderen Seite entwickelte sich das bundesrepublikanische Mödlareuth zur Touristenattraktion.

Schaffner: Schon als 1952 die Grenze dicht gemacht wurde, kamen Korrespondenten amerikanischer Zeitungen ins Dorf, um den Lesern zu Hause von diesem Kuriosum zu berichten. Die Bundesregierung richtete dann entlang der innerdeutschen Grenze an besonders interessanten Punkten sogenannte Grenzinformationsstellen ein. Dort wurden den Besuchern Photos, Dokumente und Informationen zur deutschen Teilung, der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer präsentiert. Vorträge vermittelten aber auch Kenntnisse über das "unbekannte Land DDR". So eine Informationsstelle wurde natürlich auch bei uns eingerichtet. Und schließlich hatten wir bis zu 50.000 Besucher im Jahr. Manchmal standen Dutzende von Reisebussen gleichzeitig in unserem winzigen Dorf.

Entwickelte sich demzufolge eine Art "Tourismusindustrie"?

Schaffner: Nein, es gab hier nie einen Souvenirladen, einen Imbißwagen oder einen Kiosk. Lediglich eine alteingesessene Bewohnerin verkaufte den Besuchern gelegentlich eine Flasche Bier und hatte auf Nachfrage auch einige Ansichtskarten "im Angebot". Nicht einmal ein Aussichtsgerüst - wie etwa in Berlin am Brandenburger Tor - wurde hier gebaut.

Die Mödlareuther Mauer fiel am 9. Dezember 1989, erst vier Wochen nach der Berliner Mauer. Warum so spät?

Schaffner: Wie überall in Westdeutschland hat auch in Mödlareuth kaum jemand die Tragweite der Erklärung Günter Schabowskis am Abend des 9. November 1989 in ihrem ganzen Umfang erkannt. Als dann in der Nacht in Berlin die Mauer geöffnet wurde, schliefen hier die meisten. Auch am Freitag morgen war es noch ruhig, und allgemein hielt man hier die innerdeutsche Grenze noch für geschlossen. Als plötzlich die ersten Ost-Verwandten im Trabi oder Lada auftauchten, waren die West-Mödlareuther ganz überrascht.

Also kein Sturm auf die Mauer wie in Berlin?

Schaffner: Nein, statt dessen strömten schließlich alle zu den Grenzübergängen, um dort die Deutschen aus der DDR, die inzwischen in großer Zahl mit ihren Trabis, Ladas und Wartburgs die Übergänge verstopften, zu begrüßen. Die Stimmung dort war der absolute Wahnsinn! Anders als die meisten anderen Bundesbürger, die bis Weihnachten 1989 noch ein Visum brauchten, konnten die West-Mödlareuther übrigens unmittelbar nach der Grenzöffnung in die DDR und nach Ost-Mödlareuth fahren, da sie als Bewohner eines "grenznahen Kreises" meist einen Berechtigungsschein zum Empfang eines Tagesvisums hatten. Dieser Weg war trotz des Umwegs von mehr als 60 Kilometern zunächst einfacher, als die Mauer im Dorf zu beseitigen. Denn hier war die Situation schwieriger als in Berlin, da Mödlareuth keinen eigenen Grenzübergang hatte, den man einfach hätte öffnen können. Doch nachdem sich die Aufregung der ersten Zeit gelegt hatte, gab es am 2. Dezember in Ost- wie im Westteil des Dorfes eine Demonstration zur Öffnung der Mödlareuther Mauer. Der Protest bewirkte tatsächlich, daß am 9. Dezember 1989 eine Grenzübergangsstelle durch die Mödlareuther Mauer eröffnet wurde. Von da an saß man in der nächsten Zeit jeden Abend zur Brotzeit bei einem anderen Mödlareuther in Ost oder West am Tisch.

Am 17. Juni 1990 begann der Abriß der Mödlareuther Mauer.

Schaffner: Am 17. Juni 1990 fand am Grenzübergang in Mödlareuth eine Gedenkfeier anläßlich des Jahrestages des Volksaufstandes in der DDR 1953 statt. Der bayerische Bürgermeister und sein thüringischer Amtskollege hatten veranlaßt, daß im Anschluß an die offizielle Gedenkfeier ein Teil der Mauer von einem Bagger eingerissen wurde. Eine eigentlich illegale Handlung, die dem Thüringer Bürgermeister noch einigen Ärger einbringen sollte, vor allem weil die Begeisterung der Menschen so groß war, daß statt der geplanten 20 Meter gleich 200 Meter eingerissen wurden. Andererseits begann man sich durch den plötzlichen "Mauerschwund" Gedanken über eine Erinnerung an die Zeit der Teilung zu machen. Das war die Geburtsstunde des Deutsch-Deutschen Museums. So können sich heute Besucher aus aller Welt an Hand von hundert Metern original Betonsperrmauer, des Beobachtungsturms und weiterer im Original erhaltener Grenzsperranlagen sowie einer Rekonstruktion der Tiefenstafflung des Grenzgebietes noch einen Eindruck von der Grenze verschaffen. In Wechselausstellungen und zwei Museumskinos erhält der Besucher einen Eindruck vom "Alltag an der Grenze". Ein geplanter Museumsneubau wird die künftige Daueraustellung zur Geschichte der deutschen Teilung beherbergen. Mödlareuth gilt als gesamtstaatlich bedeutende Gedenkstätte und wird daher auch vom Bund gefördert.

Sie haben sich bereits seit Ende der siebziger Jahre, als die meisten Deutschen die deutsche Frage bereits abgeschrieben hatten, mit der deutschen Teilung befaßt. Warum?

Schaffner: Ich wollte dazu beitragen, daß das Bewußtsein für unsere Heimat nicht durch die deutsche Teilung und die innerdeutsche Grenze verlorengeht. Denn unsere Heimat, nicht nur Mödlareuth, sondern die ganze Region des bayrisch-thüringisch-sächsischen Vogtlands gehört zusammen, trotz der jahrhundertealten politischen Teilung. Deshalb habe ich mit Film- und Fotodokumentationen die Erinnerung an die Einheit unserer Heimat wachzuhalten versucht. Ich wollte den Menschen hier das Deutschland "drüben" nahebringen, und ihnen zeigen, daß dort nicht nur "böse Kommunisten", sondern auch Deutsche lebten.

Ging es Ihnen um die Einheit der Heimat oder um die Einheit der Nation?

Schaffner: Es ging darum, die politisch blockierte Situation der Deutschen mit dem betont unpolitischen Begriff "Heimat" zu unterminieren.

Welche Rolle spielte die Einheit der Nation für Sie persönlich?

Schaffner: Meine Mutter stammte aus Dresden, ich bin also ein halber Sachse, und von daher habe ich nicht nur die Teilung unserer Heimat, sondern auch die Teilung Deutschlands für mich nie akzeptiert.

Waren Sie von der Gleichgültigkeit der meisten ihrer Landsleute in der deutschen Frage enttäuscht?

Schaffner: Na ja, ich konnte sie verstehen, ich habe selbst nicht an den Fall der Mauer und die deutsche Einheit noch zu meinen Lebzeiten geglaubt. Und - sind wir doch mal ehrlich -, schließlich hatten doch die meisten unserer Politiker die deutsche Einheit aufgegeben, auch wenn viele das heute nicht mehr wissen wollen.

Könnte Mödlareuth, so wie es einst ein Modell der deutschen Teilung war, auch ein Modell der deutschen Einheit sein?

Schaffner: Mödlareuth ist heute nach wie vor verwaltungsmäßig geteilt: der Osten gehört auch heute zu Thüringen, der Westen zu Bayern. Vergangen Donnerstag hatte das Ostdorf Feiertag - Reformationstag -, vergangenen Freitag, das Westdorf - Allerseelen. Östlich des Tannbaches sagen die Leute "Guten Tag", westlich davon "Grüß Gott". Hier sind die Leute nach eigenem Bekenntnis Oberfranken, dort Thüringer. Trotzalledem sind die Mödlareuther heute wieder eine Dorfgemeinschaft und leiden, im Gegensatz zu vielen anderen Deutschen, nicht an irgendwelchen Ossi-Wessi-Befindlichkeiten.

 

Arndt Schaffner ist Leiter des Deutsch-Deutschen Museums von Mödlareuth, dem fränkischen "Klein-Berlin". Außer in der Hauptstadt lief nur noch hier die Mauer mitten durch eine Gemeinde. Schaffner, geboren 1946 im oberfränkischen Münchberg, 35 Kilometer südlich von Mödlareuth, setzte sich seit den siebziger Jahren für die Überwindung der Teilung seiner Heimat ein. Der gelernte Fotograf und Industriefilmer drehte Dokumentarfilme und organisierte Fotoausstellungen, um die Deutschen beiderseits der Mauer einander näherzubringen. Zeitweilig war er freischaffend im Auftrag des innerdeutschen Ministeriums tätig. 1990 gründete er mit Gleichgesinnten einen Trägerverein für ein Mauermuseum in Mödlareuth, das er seit 1995 leitet.

Kontakt: Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth, Mödlareuth 13, 95182 Töpen, Tel: 09295/1334

 

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