© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Göttinger Schildersturm
Streit um Treitschke-Gedenktafel: Göttinger Pfarrer streitet für Beseitigung
Christian Vollradt

Pünktlich zum Reformationsfest blies ein protestantischer Pfarrer vergangene Woche in Göttingen zu einer Neuauflage des Bildersturms. Stein des Anstoßes ist dem Hirten der evangelisch-lutherischen Christophorusgemeinde eine Gedenktafel für den Historiker Heinrich von Treitschke, die an dessen zweijähriges Verweilen in der Leinestadt erinnert.

Einem alten Brauch entsprechend werden in der südniedersächsischen Universitätsstadt die Wohnstätten berühmter Persönlichkeiten mit Tafeln gekennzeichnet, auf denen der Name und die Aufenthaltsdaten, manchmal auch der Beruf angegeben sind. Ein "Judenhasser" sei Treitschke schließlich gewesen, so zitiert das Göttinger Tageblatt (GT) Pfarrer Gaillard, der Verfasser der berühmten "Deutschen Geschichte im 19.Jahrhundert" habe den Antisemitismus "gesellschaftsfähig" gemacht. In einem Aufsatz über die Judenfrage habe Treitschke darüber hinaus den verhängnisvollen Satz "Die Juden sind unser Unglück" geprägt, der ab 1927 das Streichersche NS-Hetzblatt "Der Stürmer" zierte. Das ist ohne Zweifel richtig und stimmt so eben doch nicht ganz. Denn der wachsame Theologe (dessen Profession die genaue Exegese eigentlich sein sollte) verschweigt, daß Treitschke mit diesem Satz eine von ihm so empfundene Stimmung in der damaligen Berliner Bevölkerung wiedergab. Als ihm daraufhin Kritik entgegenschlug, distanzierte er sich vom antisemitischen Pöbel und weigerte sich beispielsweise, die sogenannte "Antisemitismus-Petition" zu unterzeichnen, in der die Rücknahme der rechtlichen Gleichstellung der Juden gefordert wurde.

Treitschke sprach sich nämlich gerade für die vollständige Assimilation der Juden im Deutschen Reich aus. Genau das Gegenteil wollten die parteipolitisch organisierten Antisemiten zu jener Zeit. Am vergangenen Montag sprang dann in einer im GT veröffentlichten Erklärung der vor zwei Jahren aus der Göttinger Theologischen Fakultät ausgeschlossene Neutestamentler Gerd Lüdemann Pfarrer Gaillard sekundierend zur Seite. Doch damit nicht genug: Lüdemann schalt den (ehemaligen) Mitbruder halbherzig und erweiterte den Bedarf nach Säuberung seinerseits um die Lutherdenkmäler! "Denn Luther war ebenfalls Antisemit", zitiert ihn das Lokalblatt; der Wittenberger Reformator habe schließlich in drastischen Worten "wider die Juden und ihre Lügen" gehetzt und sogar zu Gewalt gegen sie aufgerufen. Dem streitbaren Theologieprofessor könnte sich nun eigentlich noch der Bauernverband anschließen, rief Luther doch 1525 auch zu unnachgiebiger Verfolgung von dessen Klientel auf ("Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern").

Ganz zu schweigen von den Katholiken, deren Oberhaupt er mit dem Satan gleichsetzte. Beruhigend sind in der aktuellen Gedenktafel-Inquisition lediglich die Worte des Göttinger Stadtarchivars Ernst Böhme, der feststellte, daß "Gedenktafeln wie jedes andere Denkmal Zeugnisse der Geisteshaltung ihrer Entstehungszeit sind, und Geschichte nicht gewissermaßen im Wechselrahmen zu haben ist".


 
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