© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002


Gerichtsmedizin im Fernsehen: Zur besten Sendezeit wird die Quote mit Toten gesichert
Die Lust am Morbiden
Wolfgang Scheidt

Leichen, Skalpelle, eingelegte Innereien - Rechtsmedizin ist nichts für Ästheten. Die Ausstellung "Körperwelten" war ein überwältigender Erfolg, nun infiziert der forensische Virus das Fernsehen. "Medizin ist immer ein beliebtes Objekt für Film und Fernsehen", weiß Klaus Diedrich, Direktor der Universitätsklinik Lübeck. "Auf Fernsehbilder muß verzichtet werden, wenn der Intimbereich des Patienten betroffen ist." Nach den Rettungs-und Tierärzten und der "Schwarzwaldklinik" boomen seit kurzem Krimi-Serien und Doku-Krimis, bei "Anwälte der Toten", "Medical Detectives" und "Autopsie" sind die Stars die Toten. Ein Hauch von Michael Jacksons "Thriller" mitten zur besten Sendezeit? "Gerichtsmedizinische Themen faszinieren, weil sie dem Zuschauer Fragen beantworten, wie der eigene Körper reagiert und funktioniert", sagt Peter Studhalter, RTL-Abteilungsleiter TV-Movies. "Bei einer Doku-Crime wird die filmische Dramaturgie von den Fakten und dem tatsächlichen Ablauf des Verbrechens bzw. der Aufklärungsarbeit vorgegeben." Der RTL-Profi weiß, wovon er spricht: Mit "Sektion - Die Sprache der Toten", "Anwälte der Toten", "Im Namen des Gesetzes" und "Die Cleveren" setzt er vehement auf authentische Fälle aus dem Jenseits. Die Gruselgeschichten werden fiktional von Schauspielern nachgespielt, Experten kommentieren die Szenen und rekonstruieren an Hand von Indizien, wie sie Mörder, Betrüger und Gewalttäter überführten. Mit Erfolg: Rund 20 Prozent der werberelevanten Zuschauer sahen die erste Staffel von "Anwälte der Toten" - seit Ende September sind die Gerichtsmediziner mit acht neuen Folgen im Einsatz.

Der Quoten-Erfolg inspiriert, auch Vox, RTL 2 und ZDF, das einen vehementen Sparkurs angekündigt hat, setzen ungeniert auf die rechtsmedizinische Spurensuche. Die Krimiserien "Der letzte Zeuge", "C.S.I. - Den Tätern auf der Spur" und ab dem kommenden Jahr "Crossing Jordan" überlassen nichts dem Zufall: Spermareste "outen" den Vergewaltiger, per Faltenwurf des Sweatshirts wird ein Bankräuber identifiziert und DNA-Profile sind wie Visitenkarten von Kriminellen. "Fernsehberichte können dazu beitragen, die Tätigkeit eines Rechtsmediziners zu enttabuisieren", findet der Mainzer Forensiker Reinhard Urban. "Das Gezeigte deckt sich weitgehend mit der Realität im Sektionssaal, wenn auch die Atmosphäre in Wirklichkeit nüchterner ist." Schließlich sind Rechtsmediziner keine Schönheitschirurgen. "Entweder man arbeitet an Fällen oder man wird Sozialarbeiter oder Lehrer", stellt der Kölner Kriminalbiologie Mark Benecke klar. "Ich untersuche nur Spuren. Die Leiche interessiert mich nicht." Aus der Interaktion von Fahndern, Profilern und Medizinern werden Alibis zur Makulatur, die Madenuhr tickt gleich nach dem Tod. Dem Pastor Klaus Geyer wurde im April 1997 ein Insekt zum Verhängnis. "Eines der wichtigsten Indizien war eine Ameise an den Stiefeln des Pastors", erklärt Benecke. "Ameisen derselben Art fanden sich nämlich auch auf der Leiche." Gerichtsmedizinische Sendungen profitieren davon, daß "viele spektakuläre Fälle dargestellt werden, die zudem jeden in der Bevölkerung treffen können", warnt Rechtsmediziner Urban. "Der Stellenwert der Rechtsmedizin zur Aufklärung von Straftaten und Mordfällen ist als sehr hoch anzusehen und in vielen Fällen fast genauso zu bewerten, wie die Arbeit der Polizei und der Ermittlungsbehörden."

"Dank modernster Technik können sogar als unlösbar geltende Kriminalfälle geklärt und Täter überführt werden", weiß RTL 2-Pressesprecherin Barbara Faltermeier. Der Grünwalder Kleinsender zieht sonntags die forensische Trumpfkarte, zur Hauptsendezeit sendet er hintereinander "Ungeklärte Morde", "Akte Mord" und "Autopsie". Warum mußte das Baby sterben? Wie lange trieb die verkohlte Leiche im Rhein? Woher stammen die Giftspuren im Haarbüschel der Toten? Fragen über Fragen, auf die nur Rechtsmediziner eine Antwort wissen. "Moderne und innovative Krimisendungen liefern Details, über die bisher nicht berichtet wurde", so Vox-Programmdirektorin Ladya van Eeden. "Ein Trend ist eindeutig zu verzeichnen." Doch wie realistisch sind "Old Quincys" Erben? "Im Grunde sind rechtsmedizinische Serien authentisch, so lange man die Fälle einigermaßen sachlich darstellt und bei der Realität bleibt", glaubt Urban. "Die Sendungen eignen sich dann nicht, wenn Filme zu spielfilmmäßig und zu reißerisch dargestellt werden und dadurch die Authentizität verlorengeht." Spektakuläre Dreifachmorde und Sexualdelikte versprechen allemal mehr Einschaltquoten, als Derricks Plattitüde: "Harry, fahr den Wagen vor." "Die besonderen Ermittlungsmethoden der Spurensuche lösen beim Zuschauer eine große Faszination aus, da sie sich von herkömmlicher Polizeiarbeit und somit gängigen Krimi-Mustern abheben", verrät van Eeden. "Ein besonderer Reiz liegt darin, bedingt durch technische Entwicklung, Einblicke in die tatsächliche Polizeiarbeit zu erhalten, die es in dieser Form bisher nicht gab."

Sowohl Vox, als auch RTL 2 sehen sich als Trendsetter bei den rechtsmedizinischen Serien. Mancher Zuschauer befürchtet, daß auch Daily Soaps bald auf den Zug aufspringen könnten, vielleicht mit der Krimi-Soap "Ups, mein Papi ist Forensiker". "Daily Soaps haben vor allem eine sehr junge Zielgruppe im Auge, die bereits in der Pre-Primetime fernsieht", beruhigt RTL-Abteilungsleiter Studhalter. "Fiktionale Formate mit dem Thema Gerichtsmedizin werden immer das Krimi-Genre bedienen und sind damit auf eine etwas ältere Zielgruppe gerichtet, die in der Primetime zuschaut. Es werden in erster Linie abgeschlossene Kriminalfälle erzählt, die sich für die fortlaufende Dramaturgie eines Daily-Formats nicht eignen."


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