© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002

 
Natürliches Nationalgefühl
Bindung an ein höheres Ganzes: Eine Erinnerung an die große Konservative Ricarda Huch
Wolfgang Saur

Greift man Nietzsches Wort zu Schopenhauer auf, so gibt es wenige, die darauf mehr Anrecht haben als die große, doch fast vergessene Ricarda Huch: die Frau, die Autorin, die Intellektuelle in ihrem Jahrhundert. Seht sie nur an, keinem war sie untertan!

Die energische, unerschrockene Frau wurde 1864 in der tausendjährigen Reichs- und Hansestadt Braunschweig als Tochter einer Patrizierfamilie geboren. Es war die Zeit der Reichseinigung durch Preußen. Doch liebte die spätere Autorin den kleindeutschen Nationalstaat von 1871 nicht; ihre Bilanz der Entwicklung von Stein zu Bismarck fiel polemisch aus: "Macht, Gewalt, Geld, Masse, das waren die Prinzipien des neuen Reiches, auch der Opposition: der Sozialismus kämpfte unter denselben Zeichen." Sie begegnete Ferdinand Tönnies, dem legendären Soziologen von "Gemeinschaft und Gesellschaft" (1887), der sie anregte zu studieren, was Frauen damals nur in Zürich möglich war. Mit Erfolg absolvierte sie 1888-1891 dort ein Studium der Geschichte, Philologie und Philosophie und schloß mit der Promotion ab. Der Schweiz bewahrte sie eine lebenslange Zuneigung, erschienen ihr deren urrepublikanische Tradition, Föderalismus, basisdemokratischer Gemeinsinn doch vorbildlich, ursprünglich "deutscher" als das zeitgenössische Deutschland selbst. Die Huch, antikapitalistisch, antimarxistisch, aber auch antidemokratisch, hat sich doch stets als eine "rebellische Republikanerin" apostrophiert.

Weitere Stationen der Schriftstellerin seit 1898 wurden Wien, Triest und München. Hatte der Weltkrieg ihren moderaten Patriotismus verstärkt, verursachte ihr das Ende nun "bitterste Qual", und die internationale Ächtung Deutschlands "Zorn und Verzweiflung". Den Versailler Vertrag lehnte sie ab, die Reparationskonferenz ("Londoner Ultimatum") 1921 kommentierte sie: "Alle kommen mir wahnsinnig vor."

1927 zog sie nach Berlin, wo im Jahr zuvor die neue "Sektion Dichtkunst" an der Preußischen Akademie für Künste begründet worden war, in die nun Ricarda Huch als erste und einzige Frau berufen wurde. Auf die 1933 von den Akademiemitgliedern verlangte Loyalitätserklärung antwortete sie: "Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll (...) Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Akademie."

Mit ihrer zwischen 1932 und 1941 erarbeiteten großen Reichsgeschichte machte sie den Nationalsozialisten den Reichsbegriff streitig und setzte ihre eigene Vorstellung von deutscher Vergangenheit dagegen. Seit 1936 in Jena, durch Zensur und Verhöre schikaniert, korrespondierte sie mit Graf Galen und unterhielt Kontakte zu den verschiedenen Widerstandskreisen. Das von diesen ihr 1945/46 übergebene Material zu einer umfangreichen Würdigung der "Patrioten gegen Hitler" zu gestalten, wurde ihr letztes (unvollendetes) Projekt. Als sittlicher Charakter freimütig in deutscher Selbstkritik nach 1945, unterschied sie doch zwischen natürlichem Nationalgefühl, im Kern unzerstörbar, und fehlgeleitetem Chauvinismus. So wies sie Hermann Hesses Aufforderung, sich vom nationalen Prinzip zu verabschieden, vehement zurück. In Anerkennung ihrer großen Persönlichkeit und des gewaltigen literarischen Werks wurde ihr 1947 das Ehrenpräsidium beim gesamtdeutschen Schriftstellerkongreß in Berlin übertragen. Unvergeßlich dabei die helle und klare Stimme der 83jährigen, die wenig später, am 17. November, als Gast der Stadt Frankfurt in Schönberg (Taunus) verstarb.

Literarisch startete Ricarda Huch mit Gedichten, lyrischen Versdramen und Erzählungen, trat dann mit ihrem ersten Roman, dem "Ludolf Ursleu" (1893), in die Literaturgeschichte ein. In sorgfältig stilisierter Sprache schildert sie dort die zerstörerische Leidenschaft eines Liebespaars und parallel dazu den Verfall der Patrizierfamilie; die ornamentalen Bilder entsprechen dabei der ästhetisierenden Optik des Jugendstils um 1900.

Ein essayistischer Geniestreich gelang ihr mit einer bahnbrechenden Gesamtdarstellung der deutschen Romantik 1899/1902 und eine einzigartige Verschmelzung von Poesie und historischer Wissenschaft schließlich mit dem Geschichtsepos des 30jährigen Krieges, "Der große Krieg in Deutschland" (1912/14), das bis heute als literarisches Meisterwerk gilt. Bei tadelloser Quellengrundlage geht sie in der Erzählung weit über das dem Historiker Geläufige hinaus und versucht den Zusammenhang der Ereignisse ganz über die Veranschaulichung von Situationen und Akteuren mit halbfiktionalen Elementen aufzubauen. Die Absenz von abstrakter Analyse, dagegen darstellerische Favorisierung persönlicher Beziehungsmuster der historischen Akteure kehrt auch im Werk zur Revolution von 1848 (1930) wieder, dort freilich durchsetzt von den Ideologiedebatten des Vormärz. Weltanschaulich-philosophische Themen stehen ganz im Zentrum der Bücher: "Luthers Glaube" (1916), "Entpersönlichung" (1921), "Michael Bakunin und die Anarchie" (1923) und der Monographie über den Freiherrn vom Stein, den "Erwecker des Reichsgedankens" (1925). Alle vier liefern dabei grundlegende Deutungsmuster für Huchs kritische Einschätzung des Geschichtsprozesses. So resümiert die Studie von 1921: "Mit der Umwandlung des Reichs der persönlichen Beziehungen in den unpersönlichen Staat, mit der Umwandlung der Naturalwirtschaft in Geldwirtschaft, mit der Begründung der Herrschaft der Wissenschaft begann die Entpersönlichung des Abendlandes." Über aktuelle Denkmodelle, die den Rätegedanken mit der mittelalterlichen Zunftverfassung verknüpften, kam sie auf anarchistische Traditionen und den russischen Kollektivismus, etwa im Lebensraum der altrussischen Dorfgemeinde, Mir. Diese Grundmotive, im russischen Seelenhaushalt wirkungsmächtig bis heute (Solschenizyn), integrierte sie mit der germanischen Überlieferung ihrer Perspektive. "Soll ich zusammenfassen, was Michael wollte, so war es Dezentralisation zugunsten von selbstständigen Gemeinschaften und verantwortliche Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft im Gegensatz zu der in unverantwortliche Individuen zersplitterten Masse."

Als Paradigma ihrer Anschauungen erlebte, "schaute" sie die alten, zumal reichsunmittelbaren Städte als Lebensräume und historische Gestalten. Deren "Lebensbilder", eine Frucht zahlreicher Fahrten, erschienen 1927/29: "Im alten Reich". Schließlich griff sie die Anregung auf, eine Totaldarstellung des Römischen Reichs Deutscher Nation auszuführen. In drei Bänden stellte sie, von Bonifatius bis zum Untergang 1806, eine polyphone Weltzeit dar mit all ihren sozialen, kulturellen und politischen Aspekten. Dabei ging sie wie schon früher mosaik- oder kaleidoskopartig vor und verfaßte in sich geschlossene Themenbilder (über Klöster, Hanse, Dynastien, Mystik oder Leibniz, Sprachwandel, Wien usw.), diese zu einem farbenprächtigen historischen Gobelin verwebend. In Konzeption und reicher Anschauung ward hier eine reife Summe ihres Denkens gezogen: Im Rückgriff auf christliches Imperium und die societas civilis artikulierte sich dabei der altständische Protest gegen die sich entfaltenden rationalen Lebensordnungen der Moderne, jetzt im ideologischen Spektrum der Zwischenkriegszeit, neu.

Gegen die Ideen von 1789 plädierte die Autorin für eine lebendige Tradi-tion als "die gesiebte Vernunft des gesamten Volkes aus einem Jahrhundert in das andere". Unsere eigene Überlieferung ihrem "Grundwillen" nach wird dabei als spezifische Freiheitsidee charakterisiert, Freiheit im Gegensatz zu Gleichheit, als "freiwillige Bindung an ein höheres Ganzes, Vielgestaltigkeit in organischer Abstufung", Selbstverwaltung.

Für dieses "auf Universalität, Föderalismus, freie Entfaltung der Individualitäten und Glauben gegründete Reich war keine Raum mehr im Abendlande", so schließt der dritte Band der Deutschen Geschichte (1949), nachdem "die Wurzeln seiner Kraft zerstört" waren. Bleibt zu fragen, ob das heutige Europa als mitteleuropäisches Ordnungskonzept dieses Erbe zu erneuern vermag.

Foto: Schriftstellerin Ricarda Huch (1864-1947): Protest gegen die sich entfaltenden rationalen Lebensordnungen der Moderne

Von Ricarda Huch sind unter anderem lieferbar: "Der Dreißigjährige Krieg", der Roman "Der Fall Deruga", "Der letzte Sommer. Eine Erzählung in Briefen" und der Gedichtband "Herbstfeuer". Alle Titel sind im Suhrkamp bzw. Insel Verlag, Frankfurt am Main, erschienen.


 
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